Nach einer ganzen Reihe von Skandalen, die für Boris Johnson zunächst oft weitgehend folgenlos blieben, steht jetzt fest: Das Stehaufmännchen der britischen Politik hat seinen letzten Streich verübt – er wird als Tory-Parteichef und als Premierminister zurücktreten.
Aus Protest gegen ihn traten in den vergangenen zwei Tagen über 50 Regierungsvertreterinnen und -vertreter zurück. Und sie alle sollen nach Johnsons Rücktritt ihre Ämter wieder aufnehmen.
Zudem werden Forderungen laut, dass Johnson per sofort sein Amt niederlegen und ein Interimspremierminister ernannt werden soll. Im Rennen um seine Nachfolge gibt es bislang aber keinen klaren Favoriten. Ein Überblick zu den möglichen Kandidaten:
Dominic Raab (48)
Der amtierende Vize-Premier und Justizminister leitete 2020 vorübergehend die Regierungsgeschäfte, als Johnson wegen Corona auf der Intensivstation lag und gilt auch jetzt wieder als potenzieller Kandidat, um die Interimsstelle zu besetzen. Der frühere Anwalt für internationales Recht kam als Aussenminister im Zuge des chaotischen Abzugs aus Afghanistan wegen seines Urlaubs zu der Zeit in die Kritik. Sein Wechsel vom Aussen- ins Justizministerium galt als Degradierung.
Theresa May (65)
Wird etwa die ehemalige Premierministerin wieder in das britische Politik-Scheinwerferlicht treten? Laut «Daily Mail» könnte das tatsächlich sein. Auch sie soll als Interimspremierministerin eingesetzt werden können. Der Grund: als amtierende Abgeordnete und ehemalige Staatschefin sei sie besser für den Job ausgerüstet, als viele andere.
Ist auch ein persönliches Vendetta bei dieser Überlegung dabei? Schliesslich war es Johnson, der May 2019 ersetzte, nachdem sie selbst zurücktreten musste, da sie einen Brexit nicht auf die Reihe bekam. «Ein Element der epischen Schadenfreude ist allemal vorhanden», zitiert die britische Zeitung einen Tory-Abgeordneten.
Rishi Sunak (42)
Der erste hinduistische Finanzminister Grossbritanniens wurde lange als Favorit für die Nachfolge von Johnson gehandelt. Doch Fragen zu seinem beträchtlichen Privatvermögen und Steuertricks seiner Familie schadeten zuletzt seinem Ruf. Als Finanzminister trat Sunak nun aus Protest gegen Johnsons Amtsführung zurück, was die Spekulationen um seine eigenen Ambitionen erneut anheizte.
Sunak ist in den Online-Netzwerken erfolgreich und seine Wirtschaftspolitik in der Corona-Krise brachte ihm viel Zustimmung ein. In der aktuellen Debatte um die stark steigenden Lebenshaltungskosten lehnte er jedoch zunächst weitere Hilfen für die Bevölkerung ab, worunter seine Beliebtheitswerte litten.
Jeremy Hunt (55)
Der frühere Aussen- und Gesundheitsminister unterlag 2019 im Rennen um den Parteivorsitz der Konservativen. Damals stellte er sich im Vergleich zu Johnson und dessen Clown-Image als die «ernsthafte» Alternative dar. Der frühere Geschäftsmann, der fliessend Japanisch spricht, gilt als besonders belastbar, jedoch wenig charismatisch.
Im vergangenen Monat leitete Hunt mit klarer Kritik am Parteichef recht unverhohlen einen erneuten Versuch ein, ihm den Chefposten streitig zu machen. Unter Johnsons Führung würden die Wähler «uns nicht mehr vertrauen», eine Niederlage bei den nächsten Parlamentswahlen sei programmiert, warnte Hunt.
Liz Truss (46)
Die amtierende Aussenministerin wird in der konservativen Partei für ihre Offenheit und ihr Durchsetzungsvermögen geschätzt. Allerdings hat dies auch Fragen zu ihrem Urteilsvermögen aufgeworfen, zum Beispiel als sie im Februar Briten zum Kampf in der Ukraine aufforderte. Kritiker werfen ihr vor, sich durch ihre Freimütigkeit angreifbar zu machen.
Sajid Javid (52)
Der frühere Investmentbanker und Sohn eines pakistanischstämmigen Busfahrers gehört dem wirtschaftsliberalen Flügel der Konservativen an. 2020 war er bereits im Streit mit Johnson als Finanzminister zurückgetreten, wurde gut ein Jahr später jedoch als Gesundheitsminister erneut ins Kabinett berufen.
Javid hatte Johnson lange verteidigt, trat nun aber zusammen mit Finanzminister Sunak erneut zurück. Ebenfalls wie Sunak steht Javid allerdings im Zusammenhang mit seinem Vermögen und wegen Steuertricks in der Kritik.
Ben Wallace (52)
Der amtierende Verteidigungsminister hatte im Zuge der Ukraine-Krise an Beliebtheit gewonnen. Der ehemalige Offizier gilt als geradlinig und kompetent. Er ist ein langjähriger Verbündeter von Premier Johnson und hat Spekulationen zu eigenen Ambitionen auf den Parteivorsitz bislang stets zurückgewiesen.
Nadhim Zahawi (55)
Sunaks Nachfolger als Finanzminister hatte sich zuvor einen Namen als Verantwortlicher für Grossbritanniens Impfkampagne gegen das Coronavirus gemacht. Davor war er Bildungsminister. Er kam als Kind als Flüchtling aus dem Irak nach Grossbritannien. Bevor er in die Politik ging, gründete er das bekannte Meinungsforschungsinstitut Yougov. Auch Zahawis Ruf wird von Fragen nach seinem Privatvermögen überschattet.
Tom Tugendhat (49)
Der ehemalige Armeeoffizier ist ein prominenter Abgeordneter und Vorsitzender im einflussreichen Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten. Eine Kandidatur im Falle eines Führungswechsels hat er angedeutet, parteiintern steht ihm das Lager der Anhänger von Amtsinhaber Johnson jedoch kritisch gegenüber. Profiliert hat er sich unter anderem mit einer harten Haltung gegenüber China und Kritik am Truppenabzug aus Afghanistan. (chs/AFP)