Der Tessiner Tito Tettamanti ist verzweifelt – und gibt seiner desaströsen Gefühlslage zum Jahreswechsel wortreich Ausdruck. Unter dem fatalistischen Titel «Die Linken haben gewonnen» leitet der gebildete Milliardär und Financier den Sieg seiner politischen Widersacher historisch ab: vom Wirken der philosophischen «Frankfurter Schule» um Adorno und Horkheimer in der Nachkriegszeit über die 68er-Studentenbewegung bis hin zu den links-grünen Klimareligiösen und deren Päpstin Greta Thunberg.
Tettamanti ruft zum Widerstand auf: «Wir müssen das postmarxistische Denken demaskieren (…) und die Hoheit über den Diskurs zurückerlangen.» Fürwahr ein frommer Wunsch! Man sieht den gläubigen Anhänger Friedrich August von Hayeks – einstiger Papst aller Neoliberalen, heute ihr Heiliger – förmlich die Hände falten.
Haben die Linken tatsächlich gewonnen?
Sie haben die universitär-mediale Szene erobert; ebenso die NGO-Netzwerke bis hin zur evangelischen Kirche; sie diktieren die Moral der öffentlichen Meinung, den MeToo-Feminismus, den Gender-Sprech, den antikolonialistischen Denkmalssturz sowie die antirassistische Säuberung der Literatur; nicht zuletzt haben sie zahlreiche Redaktionen bekehrt, die beflissen ihre Lehre vom links-grün-korrekten Leben predigen.
Fast müsste man glauben, Tito Tettamantis Befund treffe zu.
Die Frage wäre dann, wie es zu diesem Sieg der Linken gekommen ist. Vielleicht aufgrund historischer Dummheit der Rechten im neoliberalen Ministranten-Hemdchen: Seit Jahrzehnten sind sie fixiert auf ihre ökonomistische Liturgie, seit Jahrzehnten vertrauen sie ihrer unverrückbaren Überzeugung, dass die «unsichtbare Hand des Marktes» in einer Gesellschaft alles zum Besten regelt; seit Jahrzehnten verachten sie die kulturelle Diskussion; seit Jahrzehnten haben sie keine relevanten Intellektuellen mehr hervorgebracht.
Ja, die Neoliberalen glauben letztlich dasselbe wie die Marxisten – nur unter anderen Vorzeichen: Die richtige ökonomische Lehre lässt sämtliche gesellschaftlich-kulturellen Widersprüche verdampfen – und alles wird gut. Marxens Paradies, Hayeks Paradies.
Doch neuerdings herrscht unter den Privilegierten des westlich-kapitalistischen Systems Kulturkampf. Und die bürgerliche Rechte ist sprachlos: Ihre gehätschelten Kinder und Kindeskinder – die Linken – scheinen zu obsiegen.
In der Tat: scheinen!
Der Zürcher «Tages-Anzeiger» hat gerade erst eine Umfrage über die Parteienstärke in der Schweiz publiziert. Darin stand zu lesen: «Die Wahrscheinlichkeit, grünliberal zu wählen, nimmt mit steigendem Einkommen und Bildungsabschluss zu – bei der SVP verhält es sich genau umgekehrt. Sie erzielt bei Personen, die nur die obligatorische Schule abgeschlossen haben, die höchsten Zustimmungswerte.»
Die Meldung kam diese Woche, doch neu ist sie nicht: Die Linken, von den Sozialdemokraten bis hin zu Links-Grün, haben den Kontakt verloren zu Menschen, die kein Aufhebens von sich machen, die einfach nur tüchtig und fleissig sind – und die sich heutzutage bei der rechtspopulistischen SVP besser aufgehoben fühlen.
Cédric Wermuth, Co-Präsident der SPS, lieferte zu diesem Phänomen den Schlüsselsatz: Seine Partei kämpfe für die Arbeitnehmer, die «um 8 Uhr aufstehen».
Um 8 Uhr mag Cédric Wermuth unter der Dusche stehen. Arbeitnehmer sind um diese Zeit am Arbeitsplatz oder mit den Kindern auf dem Weg zur Schule. Für die sozialdemokratisch-links-grünen Abkömmling*innen aus wohlsituiertem Bürgerhaus indessen – dies sei hier eingeräumt – ist 8 Uhr früh, sehr früh, geradezu unerträglich früh.
16,2 Prozent Wählerpotenzial erreicht die SPS derzeit laut «Tages-Anzeiger»-Umfrage – 27 Prozent die SVP.
Haben die Linken gewonnen?
Sie haben sich verloren.