Was sind 16 Jahre? Eine lange Zeit. Was sind 16 Jahre Merkel? Eine sehr lange Zeit. Eigentlich Zeit genug für eine Ära. Ihre Bewunderer schreiben der scheidenden Kanzlerin dieses historische Attribut bereits zu: Sie sei Begründerin einer Epoche, wenn nicht eines Zeitalters.
Ganz falsch ist das nicht. Doch unter welche Epochen-Rubrik würde die Merkel-Zeit fallen? Am zutreffendsten wäre wohl das Stichwort:
Ära der Unpolitik. Präziser: der Apolitik. Wenn nicht der Antipolitik.
Wie das? Hat die Hausherrin des Bundeskanzleramts ihr Land nicht achtsam durch Fährnisse konfliktträchtiger Zeiten geführt? Nannte man sie nicht «die mächtigste Frau der Welt»? Was mehr war als nur leere Huldigung: Mit der dicken Brieftasche im Reisegepäck wurden Deutschlands Kanzler schon immer rund um den Globus respektiert, oft genug auch sehnlich erwartet. Deutschland ist ein freigiebiges Land, stets bereit, seine niemals vergehende Schuldlast mit Geld zu mindern. Angela Merkel wandelte in den Fussstapfen ihrer Vorgänger, wenn sie, nicht ohne Grazie, über die roten Teppiche aller fünf Kontinente tänzelte.
Das hat sie gut gemacht, weil gut verstanden: Deutsches Regierungspersonal ist der Welt etwas schuldig.
Doch Politik war das nicht. Ein Entwurf, das Projekt einer Aussenpolitik gar fehlt: EU, USA, China, Russland, Afrika – in keiner grossen Rede verriet Merkel, was ihr dazu über den Tag hinaus einfiel.Es gab da auch nichts zu verraten. Und grosse Reden hielt die ehrliche Maklerin des politischen Alltags ohnehin nicht. Vielleicht gerade darum nicht.
Man kann die ideelle Bescheidenheit auch wohlwollend betrachten: als charakterliche Stärke, als Verzicht auf jegliches Auftrumpfen – und damit dem wirtschaftlich übermächtigen Deutschland auf kluge Weise angemessen.
Doch weshalb die Vermeidung des Politischen auch in der Innenpolitik? Weshalb keine grosse Rede, die der Bürgerschaft Perspektiven hätte bieten können?
Der Ausstieg aus der Atomwirtschaft: Reflex auf Fukushima, im Augenblick der fernen Katastrophe opportun, im Rückblick opportunistisch. Die Öffnung der Grenzen 2015: spontane Anpassung an den Druck der Stunde, populistische Willkommenskultur ohne Perspektive. Die Abschaffung der Wehrpflicht: Tribut an eine flüchtige Zeitstimmung, sicherheitspolitisch ein fatales Signal.
Drei Grossvorhaben, denen nie eine Strategie zugrunde lag – und die nie die Dimension eines gesellschaftlichen Projekts erkennen liessen.
Alles immer ohne Politik, weil erklärungsfrei, weil ohne weiterführenden Gedanken, ohne Idee, ohne tiefere Überzeugung. Als Beispiel dafür historisch geworden der Satz, mit dem die Kanzlerin die Folgen ihres leichtsinni- gen Kontrollverzichts an der Grenze und das Hereinströmen einer Million Migranten kommentierte: «Wir schaffen das.» Wer ist «wir»? Was heisst «schaffen»? Wer schafft was? Die politischen Fragen, die der dürftige Spruch nahelegte, hat Merkel nie beantwortet.
Warum eigentlich nicht? Sie ist eine sehr intelligente Frau. Eine analytisch begabte auch. Sie hatte Gründe für dieses Verschweigen: Reden provozieren Gegenreden. Reden und Gegenreden aber – sind Politik.
Hatte Merkel Angst vor Politik? Ja, denn ihr fehlte die frühe Vertrautheit mit der politischen Kultur einer offenen Gesellschaft – mit der Debatte. Ein Unbehagen, das in ihrer DDR-Sozialisation wurzelt: im Aufwachsen unter Verhältnissen, die bürgerschaftliches Engagement nicht vorsahen, die Citoyens und Citoyennes als Systemfeinde ausgrenzten, von Rudolf Bahro über Wolf Biermann bis Monika Maron.
Was in der DDR von den herrschenden Parteifunktionären dekretiert wurde, war vom Volk zu akzeptieren als: «alternativlos» – ein Schlüsselwort auch von Angela Merkel.
Oh doch, Angela Merkel ist ohne jeden Zweifel und ganz unerschütterlich eine Demokratin – eine Kopf-Demokratin. Lust aufs demokratische Geschehen, Leidenschaft für Streitgetümmel sind ihr fremd.
Lust und Leidenschaft jedoch sind Lebenselemente der Demokratie: Widerrede Tag und Nacht und ungeordnet. Die demokratischen Niederungen sind ein Dürrenmatt’sches Durcheinandertal, voller Irrungen und Wirrungen. Die demokratische Ordnung ist Unordnung. Wer wüsste das besser als die Schweizer, die mit Referenden und Volksinitiativen die säuberlich aufgelisteten Traktanden ihrer Regierung immer wieder durcheinanderbringen?
Denn so ist es doch: Demokratie will erstens erlernt und zweitens geliebt sein. Ganz anderen Gesetzen dagegen gehorchen Macht und Machterhalt. In diesen beiden Disziplinen war Merkel die Meisterin.
Weshalb aber funktionierte ihre mundfaule Politik 16 Jahre lang, ohne heftigen Widerstand der Bürger und ihrer journalistischen Treuhänder zu wecken? Deutschland verfügt doch über imposante, über mächtige Medien, die früheren Kanzlern auch kleinere Fehler grossformatig vorrechneten: im «Spiegel», dem einst besten Magazin der Welt mit ätzender Schärfe; in der «Süddeutschen Zeitung», dem linksliberalen Leitorgan Deutschlands in schneidender Sprache; in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», dem währschaften Bewahrerblatt der Bundesrepublik mit knorrig-mahnendem Grundton.
Ein geradezu wilhelminisches Duckmäusertum prägte die journalistische Szene der Merkel-Zeit. Erst in den letzten Jahren, vor allem seit dem Migranten-Ansturm 2015, wurde die unterwürfige Medien-Mentalität konterkariert: durch die Springer-Zeitungen «Bild» und «Welt», durch das von Ringier gegründete Magazin «Cicero», vor allem durch die «Neue Zürcher Zeitung», deren Deutschland- Redaktion täglich alternativ über die alternativlose deutsche Politik berichtete.
Soll noch die Rede sein vom öffentlich-rechtlichen Radio- und TV-Journalismus, dem moralgesättigten Erziehungsjournalismus von früh bis spät? Da schweigt des Kollegen Höflichkeit.
Medienmenschen, vom Programmdirektor und Chefredaktor bis zum Lohnschreiber und Leserbriefbetreuer, sind nun mal am liebsten dort, wo die Macht sitzt, beispielsweise mit der Kanzlerin im Regierungsflugzeug auf Auslandsreisen, natürlich auch in der Bundespressekonferenz, woselbst eine «atmosphère feutrée» zum guten Ton gehört.
So wurden denn – bis in den aktuellen Wahlkampf hinein – Probleme, die den Bürger bedrängen, beredt verdrängt: Bildungsmisere, Digitalrückstand, Migrantengewalt gegen Frauen, Homosexuelle und Juden, Integrationsverweigerung durch islamische Parallelgesellschaften.
Wer immer sich solcher Themen anzunehmen wagte, landete im publizistischen Abseits und wurde als Rechter geschmäht. Die Bezeichnung «rechts» gilt seither als Stigma, «links» als Auszeichnung – gekoppelt mit «grün» sogar als höchstes Qualitätslabel.
So sieht sie aus, die hübsch zurechtgerückte Werte-Welt der Merkel-Jahre, eifersüchtig bewacht von medialen Türstehern – publizistischen Protzen einer akademischen Kaste, deren Kaiserhof vier Wahlperioden lang das Kanzleramt war.
Der britische «Economist», ein weltweit herausragendes Wirtschaftsblatt, brachte diese Woche auf den Punkt, was in Deutschland behandelt wurde wie des Kaisers neue Kleider: «Es ist schwer, auch nur eine einzige weitreichende Reform zu finden, die in einer der vier von Merkel geführten Regierungen beschlossen wurde.»
Das Schweigen muss ohrenbetäubend sein, damit sich eine Regierungschefin so etwas erlauben kann.
Das Schweigen der Lämmer.