Frank A. Meyer – die Kolumne
Der Citoyen

Publiziert: 04.07.2020 um 23:29 Uhr
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Aktualisiert: 25.09.2020 um 16:02 Uhr
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Helmut Hubacher mit Frank A. Meyer, damals Bundeshaus-Kolumnist der «National-Zeitung», bei einem Gespräch auf der Bundeshausterrasse in Bern.
Foto: Si
Frank A. Meyer

Helmut Hubacher ist 94. Eine Krankheit hat ihn erfasst. Er muss auf seine Kolumne im BLICK verzichten – ein Abschied.

Wie nimmt man Abschied von jemandem, der einem nahe ist, weil er immer schon da war, wo man selbst war, zum Beispiel in der Politik, also in Bern, oder als Kolumnist in den Medien? Die Erinnerung erweist sich als unpräzis: Wann bin ich Helmut Hubacher zum ersten Mal begegnet? Ich weiss es nicht. Klar ist nur, dass es in den Sechzigerjahren gewesen sein muss, in den frühen Jahren meines journalistischen Lebens – meines Lebens!

Der Sozialdemokrat Hubacher gehörte wie der Christdemokrat Leo Schürmann zu meinen ersten Begegnungen im Bundeshaus. Das war damals viel für einen Twen mit langen Haaren, denn Typen wie ich wurden vor 50 Jahren selten Bundeshausjournalist, schon gar nicht für namhafte Blätter, in meinem Fall die Basler «National-Zeitung», die linke «NZZ», wie man zu sagen pflegte, dann auch für das «Sonntags-Journal», eine Gründung herausragender ­Intellektueller wie Markus Kutter, Friedrich Dürrenmatt, Jean Rudolf von Salis und Rolf R. Bigler.

Es war eine Zeit ganz besonderer poli­tischer Kultur – womit die Bundespo­litik in der Ära des Kalten Krieges eher altersmilde beschrieben ist. Denn vergiftet war sie, oft von Hass erfüllt. Helmut ­Hubacher erlebte diesen Hass. An ihm wurde er abreagiert. Wie? «Die Neue Zürcher Zeitung», damals kein Blatt, das die Grenze nach ganz rechts klar zu ziehen vermochte, konnte den Namen des Basler Nationalrates kaum je ohne herabsetzendes Attribut nennen. Wa­rum das? Ihn, den Linken, faszinierten von Anbeginn seiner parlamentarischen Karriere das Militär, die Armee, die Landesverteidigung. Das galt als dubios: Ein kritischer Kopf dringt ein in den heiligsten Bezirk eidgenössischer Politik! Die Staatsschützer spitzten die Ohren. Und «die Bürgerlichen» machten mobil.

Ich sehe Hubacher, den Unruhestifter, vor mir: Wie er, nahezu eins neunzig gross, durch die Wandelhalle des Par­laments schlendert, ja schlendert. Aufrecht, den Kopf hoch erhoben, eine ­elegante Erscheinung, bürgerlicher als alle Bürgerlichen, eben doch anders, deshalb verdächtig, aber immer Respekt gebietend.

Es war die Zeit des «Mirage-Skandals»: Die Beschaffung des französischen Kampfflugzeuges wurde aufgrund helvetischer Sonderwünsche doppelt so teuer wie vorgesehen, weshalb man nur die Hälfte der gewünschten Jets beschaffte – und Hu­bacher seine politische Feuertaufe erlebte. Das Thema Militär, insbesondere Rüstung, liess ihn nie mehr los. Ätzend kritisierte er die Installation des Flugabwehrsystems Flo­rida, ebenso die Lizenz­produktion des Panzers Leopard, der von Krauss-Maffei ­ in München viel billiger an­geboten wurde, ab Stange jedoch kein Geschäft für die schweizerische Rüstungs­industrie gewesen wäre.

Im Rückblick lässt sich vergnügt von diesen Affären erzählen. Damals ging es ums Ganze. Ganz besonders für Helmut Hubacher: Sein Telefon wurde überwacht, sein militärischer Berater verhaftet, er selbst vor die Bundespolizei zitiert. Die schaltete und waltete, als habe sie ihre Ausbildung bei Mielkes Stasi in der DDR absolviert.

Helmut Hubachers parlamentarische Immunität sollte aufgehoben werden, um ihn gerichtlich zu belangen – und zum Schweigen zu bringen. Der Christdemokrat Leo Schürmann verhinderte den skandalösen Übergriff. Ich hatte meine zwei ersten grossen Demokraten gefunden: Hubacher und Schürmann.

So war damals die Stimmung: voller Spannungen, die sich entlang der Fronten des Kalten Krieges entzündeten. Die Macht im Land beanspruchten die Freisinnigen, politisch wie wirtschaftlich – freilich nicht kulturell und schon gar nicht intellektuell. Kultur und Intellektualität waren Domänen der Linken: der Sozialdemokraten und ihrer Sympathisanten, zu denen allen voran Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt und Adolf Muschg zählten, auch die Jurasüdfuss-Literaten von Jörg Steiner über Peter Bichsel bis Otto F. Walter – allesamt, wie sich später herausstellte, in den Fichen der Bundespolizei erfasst als subversiv und potenziell landesverräterisch.

Was ist geblieben von den Macht-­Habern der Sechziger- und Siebzigerjahre? ­Kaum einer, dessen man sich noch erinnerte. Dagegen kann der Staat Schweiz mit den Namen Frisch und Dürrenmatt und Muschg und Bichsel und vielen ­weiteren ehedem politisch Verdächtigen Staat machen.

Auch der Linke Helmut Hubacher, damals Stein des Anstosses, ist immer noch ein Begriff – gleich einem Felsen, über den die Wellen der Diffamierung hinwegschwappten. Die Gegner, oft seine erbitterten Feinde, kamen und gingen – er blieb. Vor allem blieb er vergnügt, was ihm den Vorwurf eintrug, ein Spieler zu sein. Das aber ist ein Irrtum mit böser Absicht. Ein Spieler war Helmut Hu­bacher nie, verspielt dagegen sehr – weil er die Politik liebte. Was heisst: ­liebte? Liebt. Bis heute.

Dem Ernst des politischen Geschäfts widmete er sich mit Gelassenheit, nie verbissen wie die auftrumpfenden Achtundsechziger, denen er väterliche Zuneigung entgegenbrachte – mehr ­allerdings nicht, waren dem Arbeitersohn und gelernten Stationsbeamten die Bürgersöhnchen aus den Nobelquartieren der Städte doch fremd in ­ihrem infantilen Revolutionsgehabe. Später, als sozialdemokratischer Parteipräsident, hütete er wie ein Kindergärtner die älter gewordenen, aber ­eigentlich nie ganz erwachsenen Bourgeois-Sprösslinge, die zur Partei gefunden hatten, um diese – versteht sich – revolutionär umzugestalten.

Es hat ihm den Vorwurf eingetragen, er habe es verpasst, der SPS eine Strategie zu verpassen. Was zutrifft. Zugleich aber einer Erklärung bedarf: Die Partei wandelte sich von der Kulturbewegung der Arbeiter zur Kulturbewegung des gut situierten Mittelstandes. Es knirschte, knackte und knallte im Sozi-Gebälk. Helmut Hubacher hielt den Laden zusammen – für die einen war er ein Rechter, den andern ein Linker, weshalb der Kraftakt auch gelang.

Vergnügt, verspielt, verliebt – in die ­Demokratie. Das war – das ist – dieser Bern-Basler-Schweizer, dem alles Verbiesterte der so oft puristisch grundierten Linken völlig abgeht.

In den Achtziger- und Neunzigerjahren erfuhr der Berner Parlamentsbetrieb eine aufregende Kultivierung – als glückliche Folge einer fatalen Entwicklung: Der Freisinn, seit 1848 stolz-­arrogante Staatspartei, beschloss, Antistaatspartei zu werden, unter der ein­fältigen Parole: «Mehr Freiheit, weniger Staat.» In der Gegenreaktion führte dies zur Profilierung der kultivierten FDP-Liberalen, die sich im politischen Spektrum plötzlich ­links der Mitte ­wiederfanden, ohne sich als Linke zu ver­stehen, weil sie doch einfach nur ­kultiviert argumentierten, intellektuell bestens ausgestattet – und neugierig auf Andersdenkende, zumal auf echte Linke.

Ein kleines Wunder begab sich in der FDP: Ulrich Bremi, der «Bismarck der Schweizer Wirtschaft», wie ich ihn in ­einer Geburtstagsrede nannte, wurde Fraktionspräsident – und erteilte den Abweichlern vom Anti-Staats-Kurs der FDP immer wieder das Wort. Nur einige der dissidenten Lichtgestalten seien ­aufgezählt: Rhinow, Schoch, Schiesser, Petitpierre, Tschopp, Salvioni ... Es ­waren mehr. Sie verwunderten sich über die Zuwendung des Machtmenschen aus Zürich. Ulrich Bremi erklärte das Phänomen mit folgenden Worten: «Das sind meine Grenzbefestigungen.»

Unter Ulrich Bremi als Nationalrats­präsident wurde im Parlament Friedrich Dürrenmatts Stück «Herkules und der Stall des Augias» aufgeführt. Man stelle sich das SVP-Gegröle vor, würde ein Ratspräsident heute Ähnliches planen.

Auch Helmut Hubacher wusste den Sinn des Zürchers für demokratische Kultur zu schätzen: Von mir auf die Idee ­gebracht, setzte er gemeinsam mit ­Ulrich Bremi eine Parlamentarische Unter­suchungskommission gegen den Überwachungswahn der Bundespolizei durch. Präsident wurde Moritz Leuenberger, später Bundesrat – nicht zuletzt wegen der Arbeit, die er als PUK-Präsident geleistet hatte.

Der Sumpf der Geheimdienste reichte tief: 900'000 als verdächtig erfasste ­Bürgerinnen und Bürger, bei sieben Millionen Einwohnern, übelste Über­wachungsmethoden, schmierigste Komplizenschaften bis ins rechtsextreme ­Milieu hinein. Die PUK wurde zum ­Triumph für Helmut Hubacher, persönlich und parteilich: Moritz Leuenberger packte das Pack am Portepee.

Solche Siege, die er nie zu feiern pflegte, waren allerdings selten. Niederlagen ­dagegen häufiger: Seine Volksinitiative gegen das Bankgeheimnis wurde massiv verworfen. Sie hätte der Schweiz viel Ungemach erspart, das später durch internationalen Druck über sie hereinbrach – und das Banken in Zürich, ­Lugano und Genf zu Ablasszahlungen in Milliardenhöhe zwang. Peter Bichsel sah die ­Er­klärung zum niederschmetternden Volksentscheid im schweize­rischen Selbstverständnis: «Wir sind nicht alle reich, aber wir denken wie Reiche.»

Helmut Hubachers grösste Niederlage war die Nichtwahl von Lilian Uchten­hagen als Bundesrätin. Der Parteipräsident hatte eine Lippe zu viel riskiert: Er erklärte den Sozialdemokraten Otto Stich für inakzeptabel. Worauf Otto Stich gewählt wurde. Worauf Helmut Hu­bacher den Austritt der SPS aus dem Bundesrat betrieb. Worauf der sozialdemokratische Parteitag den Verbleib im Bundesrat beschloss. Worauf Otto Stich den Rücktritt von Helmut Hubacher forderte. Worauf der Parteitag den Präsidenten mit mehr als 90 Prozent der Stimmen bestätigte. Worauf Helmut Hubacher weitermachte.

Der unerschütterliche Demokrat sagt es so: «Man muss verlieren können.» Recht hat er, denn dann schmeckt der nächste Sieg umso süsser. Und das Ganze reimt sich auf: Demokratie.

Helmut Hubacher war sein ganzes ­po­litisches und journalistisches Leben lang ein sicherer Wert unserer offenen, un­serer im Wortsinne bürgerlichen ­Ge­sellschaft.

Schaute dieser Muster-Citoyen in seinen späten BLICK-Kolumnen aus einer andern Zeit auf unsere Tage herab? Nein! Helmut Hubacher steht fest in dieser Zeit, mit dem Standbein wie mit dem Spielbein. Seine Worte in Kolumnen und Interviews sind nie Betrachtung, sondern immer Einmischung, stets auf politische Wirkung bedacht, auf ­Er­klärung, auf intellektuelle Durch­dringung erpicht.

Mit wem wäre dieser Autodidakt am ehesten zu vergleichen? Mit Willi Ritschard, dem legendären Bundesrat, dem Max-Frisch-Freund, dem Peter-Bichsel-Vertrauten. Auch Willi Ritschard war ein intellektueller Autodidakt. Über diesen heute sehr seltenen Status sagte einst der grosse SPD-Denker, Autor und akademische Lehrer Peter Glotz: «Auch wer studiert, muss sich als Autodidakt ­verstehen, sonst wird er nie ein Intel­lek­tueller.» Wie verhält sich ein Auto­didakt? Unerlöst – unerlöst neugierig, unerlöst wissbegierig.

Helmut Hubacher ist kein bisschen ­weise. Die Attitüde des Elder Statesman geht ihm völlig ab. Er genoss bis zu ­seiner letzten Kolumne Aufmerksamkeit, weil Reden und Schreiben für ihn im existenzialistischen Sinn immer auch Handeln bedeutet.

Der Kommentar des grossen alten Mannes: «Ich habe ein glückliches Leben.» Er meint damit vor allem seine Frau Gret, wie er im 94. Lebensjahr. Seit 72 Jahren stehen sie einander bei – das Glück an sich.

Helmut Hubacher hat Stil: bürgerlichen Stil. Und er handelt danach – gemäss dem Leitspruch des wahren Citoyen: Servir et disparaître.

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