Wolodimir Selenski hält grosse Stücke auf unser Land. In seiner Antrittsrede als ukrainischer Präsident am 20. Mai 2019 erklärte er vor dem Parlament in Kiew: «Wir müssen wie die Schweizer harmonisch zusammenleben, ungeachtet aller Unterschiede.» Seit der Konferenz von Lugano Anfang Juli ist das Ansehen der Eidgenossenschaft in der Ukraine noch weiter gestiegen. Eben erst gab die ukrainische Nationalbank eine Gedenkmünze heraus, die «der Unterstützung der Ukraine durch die ganze Welt» gewidmet ist. Unter dem Spruch «Einheit ist Stärke» zeigt das Geldstück die Flaggen von 15 befreundeten Staaten. Mit dabei: das Schweizerkreuz.
Auch in einer Videobotschaft bedankte sich Selenski kürzlich für die Unterstützung aus Bern: «Wenn die Schweiz beim Schutz der Werte und der menschlichen Moral nicht neutral bleibt, ist dies ein sehr wichtiges Signal für die ganze Welt.»
Wertegemeinschaft, Gedenkmünzen, Dankesworte: Schweizer Diplomaten ist nicht ganz wohl bei so vielen Freundschaftsbekundungen. Sie wittern darin den Versuch der Ukraine, unser Land stärker an sich zu binden. Tatsächlich liegt es zu einem wesentlichen Teil an Wolodimir Selenskis Politik der persönlichen Ansprache – seinen Reden an den US-Kongress, an den Deutschen Bundestag, an die Schweizerinnen und Schweizer –, dass sich der Westen so geschlossen für das kriegsversehrte Land engagiert. (Wobei leider gesagt sein muss, dass es sich bei vielen Versprechen um Lippenbekenntnisse handelt.)
Wie aber könnten wir angesichts des Leids, das Wladimir Putin verursacht, überhaupt nur daran denken, uns nicht auf die Seite der Ukraine zu stellen? Die Uno zählt seit Beginn von Russlands Angriff am 24. Februar mindestens 5514 ermordete Zivilisten, 356 davon waren Kinder. Weitere 7698 Zivilisten wurden verletzt. Hinzu kommen täglich Hunderte tote ukrainische Soldaten. Millionen Menschen wurden vertrieben.
Dieser Krieg markiert einen epochalen Bruch in der Geschichte. Nun geht es für die Schweiz nicht mehr darum, spontan auf die veränderte Weltlage zu reagieren, sondern unsere aussenpolitischen Grundsätze neu zu definieren. In den kommenden Wochen – rund sechs Monate nach Beginn von Putins Vernichtungsfeldzug – dürfte der Bundesrat die künftige Ausgestaltung der Schweizer Neutralität diskutieren. Konkret soll der von Bundespräsident Ignazio Cassis skizzierte Begriff einer «kooperativen Neutralität» mit Inhalten gefüllt werden.
«Staaten und private Unternehmen kommen unter Druck, Farbe zu bekennen, zu welchem Lager sie gehören», heisst es in einem Entwurf des Neutralitätspapiers, das die Landesregierung auf Antrag des Aussendepartements beraten wird. Und ja, es stimmt: In einem Krieg, wie ihn Russland der Ukraine aufzwingt, lässt sich Neutralität nicht nur moralisch nicht rechtfertigen – im Zeitalter des totalen Informationskriegs ist Neutralität auch rein faktisch undenkbar geworden. Wer heute für Neutralität plädiert, ergreift automatisch Partei für den Schlächter Putin.
Vor acht Tagen forderte die Genfer Nationalrätin Céline Amaudruz in der «Tribune de Genève», die Schweiz solle sich «in diesem Konflikt» neutral verhalten. Nur so würde sie von Russland als glaubwürdige Vermittlerin akzeptiert. Die staatliche russische Medienagentur Tass griff die Aussagen der SVP-Vizepräsidentin und engen Vertrauten von Bundesrat Guy Parmelin dankbar auf – als vermeintlichen Beleg dafür, dass sich die offizielle Schweiz im Unrecht befindet und dass hierzulande viel Unmut darüber herrscht. Und Céline Amaudruz ist nicht die erste SVP-Vertreterin, die sich für die russische Kriegspropaganda einspannen lässt. Bereits Anfang August zitierte «Ria Novosti», ein weiteres Verlautbarungsorgan des Kremls, eine Sprecherin der SVP mit den Worten, durch die Verabschiedung von Sanktionen gegen Russland werde die Verfassung der Schweiz als neutraler Staat verletzt. Titel der von verschiedenen russischen Zeitungen weiterverbreiteten Meldung: «In der Schweiz gelten die Sanktionen als Verfassungsbruch.»
Es ist dringend notwendig, dass die Schweiz ihre Neutralitätspolitik adjustiert! Einen offensichtlichen Makel jedoch hat die anstehende Diskussion: Der Bundesrat nützt die Fokussierung auf das Thema Neutralität, um das Europadossier auf die lange Bank zu schieben. Dabei gehört zu einer echten, ehrlichen Neupositionierung der Schweiz in der Welt vor allem eine bessere Zusammenarbeit mit der EU. Dieses Traktandum wird jetzt aber verschoben – möglichst auf die Zeit nach den Wahlen 2023.