Herr Gretskiy, im Januar gingen Sie als Gastdozent in die estnische Hauptstadt Tallinn. Nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine musste Ihre Familie aus St. Petersburg fliehen. Was war geschehen?
Igor Gretskiy: Nur wenige Tage nach dem Einmarsch erhielt meine Frau Drohungen. Es waren nicht die ersten, aber sie wurden immer konkreter. Wir haben miteinander telefoniert und beschlossen, dass sie und meine beiden Söhne sofort zu mir nach Estland kommen.
Weshalb wurde Ihre Frau bedroht?
Sie betreibt einen Blog und setzt sich in ihren Beiträgen kritisch mit Putins Politik und der russischen Gesellschaft auseinander. Nach dem Einmarsch in die Ukraine wurden die russischen Medien angewiesen, nur offizielle Informationen der Behörden für ihre Berichterstattung zu verwenden. Wörter wie «Angriff» oder «Invasion» im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wurden verboten, Blogger wie meine Frau auf eine schwarze Liste gesetzt.
Schon an der Universität St. Petersburg war die Luft für Sie dünn geworden.
Während meiner Lehrtätigkeit habe ich bereits bei der Annexion der Krim 2014 den imperialen Grössenwahn des Kremls kritisiert. Ich habe im Fernsehen Kritik geäussert und Zeitungskolumnen geschrieben.
Igor Gretskiy (39) war Professor an der St. Petersburger Staatlichen Universität, Fachbereich postsowjetischeStudien. Seit Januar 2022 ist er Gastwissenschaftler am Internationalen Zentrum für Verteidigung und Sicherheit in Tallinn (Estland). Seine Forschungsinteressen gelten vor allem der russischen Aussenpolitik gegenüber der Ukraine und Polen sowie der politischen Transformation in Mittel-und Osteuropa. Er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
Igor Gretskiy (39) war Professor an der St. Petersburger Staatlichen Universität, Fachbereich postsowjetischeStudien. Seit Januar 2022 ist er Gastwissenschaftler am Internationalen Zentrum für Verteidigung und Sicherheit in Tallinn (Estland). Seine Forschungsinteressen gelten vor allem der russischen Aussenpolitik gegenüber der Ukraine und Polen sowie der politischen Transformation in Mittel-und Osteuropa. Er ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen.
Sie haben Putins Narrativ öffentlich widersprochen. Was geschah dann?
Die Annexion der Krim war und ist völkerrechtswidrig. Mir wurde damals vorgeworfen, die Integrität Russlands in Frage zu stellen. Danach wurde ich mehrmals von der Universitätsleitung ermahnt, es wäre gesünder, wenn ich schwiege. In den acht Jahren nach der Annexion wurde aus einem autokratischen Staat eine Diktatur. Eine Lehrtätigkeit in Russland war für mich unmöglich geworden. Ich kündigte und nahm eine Stelle als Gastwissenschaftler am Internationalen Zentrum für Verteidigung und Sicherheit in Tallinn an.
Wie hat sich Putins Propaganda seit Beginn des Krieges verändert?
Sie ist viel aggressiver geworden. Mit dem Einmarsch begannen nicht nur die staatlichen Medien, sondern auch die russischen Spitzenbeamten, das politische Regime in der Ukraine als «neonazistisch» und «kriminell» zu bezeichnen. In seiner Rede am 24. Februar verwendete Putin sogar zum ersten Mal seit 2014 wieder das Wort «Junta», um auf die «Illegitimität» der ukrainischen Regierung hinzuweisen.
Und heute?
Die Propaganda verbreitet Fake News über die Absicht der Ukraine, ihr Atomwaffenarsenal wiederherzustellen, biologische Waffen zu entwickeln oder Russland absichtlich in synthetischen Drogen zu «ertränken» und den Gebrauch der russischen Sprache im Alltag zu verbieten. Darüber hinaus greifen die Behörden zunehmend auf offen neo-imperiale Narrative zurück.
Wie äussert sich das?
Putin erklärte jungen Teilnehmern des Internationalen Wirtschaftsforums 2022 in St. Petersburg, dass die aussenpolitische Aufgabe Russlands seit der Zeit Peters des Grossen unverändert geblieben sei – die Rückgewinnung und Stärkung der «ursprünglich» russischen Gebiete., was darauf hindeutet, dass Moskau seine Niederlage im Kampf um die Herzen der Ukrainer anerkennt.
Welche Gesellschaftsschicht ist besonders empfänglich für Putins Propaganda?
Die ältere Generation, von der viele nach wie vor nostalgisch an die sowjetische Ära einer vermeintlichen «Stabilität und Grösse» denken. Von Beginn seiner Herrschaft an nutzte Putin erfolgreich solche Ängste und Traumata aus, um sein höchst autokratisches Regime zu legitimieren. Er hat die sowjetische Nationalhymne wieder eingeführt, den Mythos vom Sieg im Grossen Vaterländischen Krieg monopolisiert und die offizielle Rhetorik des Kremls erheblich re-sowjetisiert.
Ein Griff in Stalins Mottenkisten.
Ja, Putin stützte sich stark auf alte Propaganda-Slogans und Klischees, die Menschen seines Alters in eine vergangene Epoche zurückversetzen, einschliesslich der geopolitischen Konfrontation mit dem Westen und der pauschalen Kritik an den moralischen Grundlagen der europäischen Demokratien.
Und was sagt das Volk dazu?
Die ältere Generation reagiert gelassen, sogar positiv auf westliche Sanktionen, weil sie glaubt, dass die Beschränkungen nur Oligarchen und andere Wohlhabende treffen. Ihre ideale Welt ist die alte sowjetische Realität, in der alle gleich arm waren.
In einem Aufsatz schreiben Sie vom «post-imperialen Syndrom».
Viele Russen, die älter als 55 Jahre sind, können sich immer noch nicht damit abfinden, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken ihre politische Unabhängigkeit von Moskau bewahren konnten. Dieser Teil der Bevölkerung hat die Annexion der Krim regelrecht gefeiert. Und sie betrachtet den Angriff auf die Ukraine tatsächlich als einen Krieg zur Wiederherstellung des zusammengebrochenen Imperiums.
Was sagen die Jüngeren?
Bei der mittleren Generation hält sich die Begeisterung über den Krieg gegen die Ukraine in Grenzen, aber sie unterstützt ihn passiv. Die meisten nehmen eine konforme Haltung ein, was vor allem daran liegt, dass sie in Bezug auf Einkommen und Beschäftigung fast vollständig vom Staat abhängig sind. Viele sind sich darüber im Klaren, dass Russland einen Angriffskrieg gegen den Nachbarstaat führt, versuchen dies aber zu ignorieren und klammern sich an die Reste einer schwindenden Stabilität. Generell neigen die russischen Millennials dazu, jedem Führer gehorsam zu folgen, der ein Mindestmass an wirtschaftlichem Wohlstand garantieren kann.
Wagen Sie einen Blick in Russlands Zukunft?
Russlands Aggression gegen die Ukraine hat die meisten Beziehungen zu Europa für sehr lange Zeit gekappt. Dennoch sollte der Westen standhaft bleiben. Es darf keine Verhandlungen mit Putin geben, bevor sich Russland vollständig aus der Ukraine zurückgezogen hat. Wenn der Krieg vorbei ist, wird es für die russische Gesellschaft ein sehr schmerzhafter Prozess werden, eine neue, nicht-imperiale Identität zu schaffen, um sich wieder in die Weltgemeinschaft einzufügen. Russland wird den gleichen Prozess durchlaufen wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird die gesamte Verantwortung für die in der Ukraine begangenen Verbrechen übernehmen und auf verschiedene Weise Wiedergutmachung leisten müssen.