In neun Monaten finden die nationalen Parlamentswahlen statt. Bevor alle Scheinwerfer auf diesen 23. Oktober gerichtet werden, möchte ich den Blick auf die schweizerische Parlamentslandschaft lenken. In den kommenden Wochen und Monaten werden in den Kantonen Genf, Basel-Landschaft, Luzern, Zürich, Tessin und Appenzell Ausserrhoden die Parlamente erneuert, ebenso wie in vielen Gemeinden – im Thurgau etwa in den Städten Weinfelden, Frauenfeld, Arbon und Kreuzlingen. Diese regionalen und kommunalen Wahlen könnten politische Sensoren und Taktgeber für den gesamtschweizerischen Höhepunkt im Oktober sein.
Es lohnt sich also, einmal einen Blick auch auf kommunale Parlamente zu werfen. Immerhin blicken einige auf eine sehr lange Geschichte zurück – ihre Anfänge liegen teilweise noch im 18. Jahrhundert und sind damit älter als die Bundesversammlung. Viele Parlamente wurden bereits in der Zeit zwischen der Französischen Revolution und der Gründung des Bundesstaates ins Leben gerufen, vor allem in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz. In der Deutschschweiz sind Parlamente jünger, in den grossen Städten dauerte es im Schnitt 100 Jahre länger bis zum Stadtparlament. Die ältesten Deutschschweizer Stadtparlamente finden sich in Schaffhausen und Luzern (beide 1831). Viele Gemeindeparlamente der Deutschschweiz wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründet, nachdem einerseits das Frauenstimmrecht eingeführt worden war und man andererseits in vielen Kantonen (etwa AG) auch die nötigen gesetzlichen Grundlagen geschaffen hatte. Freilich gibt es immer noch Kantone (UR, NW, AI), in denen ein Parlament nicht vorgesehen ist; dem stehen Kantone gegenüber, in denen eine Gemeindeversammlung nicht (mehr) möglich ist (GE, NE).
Warum Parlamentswahlen zentral sind
Insgesamt gibt es 485 Parlamente auf den drei Staatsebenen. Sie sind die zentralen Akteurn in unserem politischen System. Sie entscheiden über alle wichtigen politischen Fragestellungen, die uns unmittelbar in unserem Alltag betreffen – und dabei geht es nicht nur um simple Ja-/Nein-Entscheide, sondern um detailreiche Inhalte, die Einfluss auf unser Leben haben. Die Vorstellung, dass der Souverän direkt über (alle oder über sehr) wichtige politische Fragestellungen entscheiden kann, ist unvollständig. Abgesehen davon, dass die Beurteilung, was politisch wichtig ist, je nach Standpunkt und Lebensphase unterschiedlich ausfällt, kommt es, über alle Gesetze hinweg betrachtet, doch selten zu Referenden. Ganz zu schweigen von all den vielfältigen, gewichtigen Beschlüssen des Parlaments oder den Wahlen in wichtige Funktionen (wie die von Richtern, in einigen Kantonen auch von Bankräten oder Erziehungs- bzw. Bildungsräten), die abschliessend beschlossen werden. Ebenso unbeteiligt ist der Souverän an der Ausübung der Kontrollfunktion über Regierung und Verwaltung.
All dies zeigt, wie zentral Parlamentswahlen sind – tatsächlich wichtiger als die Bundesratswahlen im Dezember 2022!
Die parteipolitische legislative Ausrichtung hat bei uns konkrete Auswirkungen: Auch kleinere Fraktionen können eine Vorlage verändern, wandelbare Mehrheiten zu tragfähigen Kompromissen führen – eine grosse Stärke des hiesigen Parlamentarismus, wenn er so gelebt und verstanden wird. Nicht überzeugt? Dann fragen sie einmal Abgeordnete einer Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag, ob sie bei Gesetzesvorhaben der Regierung Einfluss nehmen können … «Opposition ist Mist», umschrieb denn auch vor Jahren der SPD-Parteichef leidlich den Parlamentsalltag der Opposition in unserem Nachbarland.
Parlament ist nicht gleich Parlament
Indes: Parlament ist nicht gleich Parlament. Es gibt auch hier einen unverkennbaren Föderalismus. Russin (GE), eine Gemeinde am westlichen Ende der Schweiz, wie auch Samnaun (GR) ganz im Osten haben mit neun Mitgliedern die kleinsten Parlamente. Demgegenüber hat der Gemeinderat der Stadt Zürich 125 Sitze, gefolgt von den Waadtländer Gemeinden Nyon, Vevey, Pully mit je 100 Sitzen. Das neuenburgische Les Planchettes ist mit seinen 208 Einwohnern die kleinste Gemeinde mit einem Parlament. Ob Rapperswil-Jona (SG) – bis dato die grösste parlamentslose Gemeinde der Schweiz – den Schritt zu einem Stadtparlament macht, wird im März an der Urne entschieden. Sodann wird der Souverän in Wohlen bei Bern aufgerufen, über diese staatspolitische Frage zu entscheiden. Im schaffhausischen Thayngen wird die Frage andersherum zu beantworten sein: Soll das seit 1941 bestehende Parlament abgeschafft werden?
Viele Menschen politisieren in einem Parlament auf einer oder mehreren Staatsebenen – 19'659, um genau zu sein –, teils auch unter persönlichen Abstrichen und (gerade auf kommunaler Ebene) abseits des medialen, öffentlichen Fokus. Doch sie nehmen eine wichtige und nicht zu unterschätzende Funktion in unserem Staatswesen und damit eine entscheidende Rolle für die Ausrichtung unserer Gesellschaft ein.
*Michael Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Parlamentarismus und politische Systeme. Er ist Autor des gerade erschienenen Buches: Das Schweizer Parlamentslexikon (Helbing Lichtenhahn Verlag).