Den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz traf es ebenso wie im Jahr zuvor den spanischen Premierminister Mariano Rajoy. Zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt und manch anderen gehören sie einem speziellen Klub an: dem Klub der Regierungschefs, die während der laufenden Legislatur aus politischen Gründen abberufen wurden – ein Vorgang, der in den meisten demokratischen Ländern eine Normalität darstellt, im hiesigen politischen System aber ausgeschlossen ist.
Mitglieder von Regierungen auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene sind fest für eine Legislaturperiode gewählt, entweder durch den Souverän (auf Gemeinde- und Kantonsebene) oder durch das Parlament (auf Ebene des Bundes). Am Ende der Amtsdauer werden sie wiedergewählt oder – wenn der politische Rückhalt fehlt – eben nicht. Da eine politisch motivierte Absetzung während der Legislatur nicht vorgesehen ist, sind Regierungsmitglieder in einer starken Position. Doch wie sieht es aus, wenn ein Exekutivmitglied amtsunfähig ist? Auf Bundesebene kann die Bundesversammlung die Amtsunfähigkeit eines Bundesrats feststellen. Die zugrunde liegende Bestimmung zielt auf physische oder psychische Ursachen ab und entstand infolge eines konkreten Falls (1962).
Wie sieht es aber aus, wenn ein Exekutivmitglied seine Amtspflichten auf gravierende Weise verletzt? Solche Fälle sind selten, kommen jedoch immer wieder vor. Ein in der Öffentlichkeit breit diskutierter Fall war der eines Genfer Regierungsrates. Die meisten Kantone und die überwältigende Mehrheit der Gemeinden haben keine Regelung für diesen Fall (ebenso wenig für den der physischen respektive psychischen Amtsunfähigkeit).
Entzug von Dossiers greift zu kurz
Als Ausweg entzieht die restliche Regierung dem betreffenden Kollegen grösstenteils einige oder alle Dossiers. Auf den ersten Blick mag mit diesem Schritt Schaden abgewendet werden. Doch diese Massnahme bewegt sich in einem rechtlichen Graubereich und hält der juristischen Überprüfung oft nicht stand – aufgrund von Verfahrensfehlern oder schlicht, weil keine gesetzliche Grundlage dafür besteht. Auf den zweiten Blick zeigt sich das Dilemma dieses Mittels: Das dossierbefreite Mitglied nimmt weiter an Regierungssitzungen teil und entscheidet mit, denn der Entzug dieser beiden Rechte ist staatsrechtlich definitiv nicht haltbar.
Ein weiterer Weg besteht darin, starken politischen und öffentlichen Druck aufzubauen, um die fragliche Person so zum «freiwilligen Rücktritt» zu bewegen. Wie schon der Dossier-Entzug stellt diese Massnahme eine hohe Belastung für eine Kollegialbehörde dar. Zudem kann dieses Vorgehen das Vertrauen in politische Institutionen insgesamt beschädigen.
Kanton Aargau entscheidet über Amtsenthebungs-Initiative
Die Kantone Neuenburg (inklusive der kommunalen Ebene), Graubünden und Nidwalden verfügen über austarierte rechtsstaatliche Verfahren, welche die Amtsenthebung eines einzelnen Exekutivmitglieds und den Prozess regeln. Es geht um Verfehlungen im Amt oder Amtsunfähigkeit und nicht um eine politisch motivierte Abwahl. Genf hat in diesem Jahr mit einer ähnlichen Bestimmung nachgezogen. Aus Schaden wird man klug – oder auch aus dem Schaden anderer: Die Genfer Causa war im Kanton Aargau Anlass zur aktuellen Volksinitiative für die Möglichkeit zu solch einer Amtsenthebung. Während in Basel-Stadt ein identisches Vorhaben scheiterte, stimmt die Aargauer Bevölkerung am 15. Mai über die Initiative ab. Parlament und Regierung empfehlen ein Ja. Findet die Initiative eine Mehrheit, wird der Grundsatz der Amtsenthebung von Behördenmitgliedern in der Verfassung ergänzt. Auf Gesetzesebene erfolgt die Konkretisierung: Für welche Amtsträger gilt diese Regelung, was sind die Gründe für eine Amtsenthebung und wie sieht das Prozedere genau aus?
Das Wallis (2015) und Zug (2018) verzichteten auf eine solche Regelung, unter anderem weil kein Handlungsbedarf erkannt worden sei und es sich um Ausnahmen handle. Dies sind jedoch zwiespältige Argumente, denn die Krux mit den Ausnahmefällen ist: Sie kündigen sich nicht an. Wer meint, den Ausnahmefall ad hoc regeln zu können, sollte bedenken: Die Erfahrungen zeigen, dass dies häufig nur schlecht bis unmöglich machbar ist. Ein politisch-medial aufgeheiztes Klima ist einer seriösen Bearbeitung nicht zuträglich – ganz abgesehen von der notwendigen Zeit bis zum Erlass einer Regelung.
Handhabe für Ausnahmesituation vonnöten
Gewiss, die personelle Kontinuität der Regierung über eine Legislaturperiode verleiht politische Stabilität – was im Vergleich zu vielen anderen Ländern ein Qualitätsmerkmal unseres Systems darstellt. Aber gerade die feste Amtsdauer rechtfertigt die Bestimmungen in vier Kantonen, in denen eine schwere Verletzung der Amtspflichten oder eine Amtsunfähigkeit als Grund für eine Abberufung definiert wurden. Ob der Aargau als fünfter Kanton dazukommt, werden wir in zwei Wochen wissen.
Der aargauische Prozess könnte anderen als Inspiration dienen: Warum nicht in diesbezüglich politisch unaufgeregten Zeiten und ohne aktuellen Anlass die rechtliche Grundlage diskutieren und festlegen? So läge für die Ausnahmesituation eine Handhabe vor – aus meiner Sicht Inbegriff staatspolitischer Verantwortung.
* Michael Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Parlamentarismus und politische Systeme. Er arbeitet für verschiedene Parlamente und hat Lehraufträge an der Fernuniversität Hagen sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.