«Exekutivföderalismus»
Was die Schweiz wirklich zusammenhält

Zur politischen Kultur der Schweiz gehören neben direkter Demokratie und Zauberformel auch der sogenannte Exekutivföderalismus. Er ist ein massgeblicher, oftmals unterschätzter politischer Faktor in diesem Land – und in der helvetischen Ausprägung weltweit einmalig.
Publiziert: 21.08.2022 um 15:47 Uhr
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Aktualisiert: 27.10.2022 um 16:50 Uhr
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Lukas Engelberger ist der Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz, die während der Corona-Pandemie oft im Rampenlicht stand.
Foto: keystone-sda.ch
Michael Strebel*

Höchster Gesundheitspolitiker – so bezeichneten Medien den Präsidenten der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz, kurz GDK, während der Corona-Pandemie oft. Denn in seiner Funktion präsidiert er alle 26 kantonalen Regierungsräte in der GDK, in deren Ressort der Bereich Gesundheit fällt. Der Zweck der Konferenz ist die Zusammenarbeit der Kantone untereinander, aber auch die mit Bund und wichtigsten Organisationen des Gesundheitswesens. Die GDK wird aber nicht erst seit Corona in der Öffentlichkeit wahrgenommen – genauso wie auch die KdK, die Konferenz der Kantonsregierungen. Ihre Mitglieder sind die Gesamtregierungen aller Kantone. Über die KdK können sich die Kantonsregierungen in die Bundespolitik einbringen, wenn es um kantonale Interessen geht.

Es gibt noch viele weitere Konferenzen respektive Gremien, die sich aus kantonalen Regierungsmitgliedern aller oder bestimmter Kantone zusammensetzen. Sie treten zwar selten oder nie ans Licht der (Medien-)Öffentlichkeit, sind aber dennoch bedeutend. Neben der KdK auf nationaler Ebene bestehen vier der Regierungskonferenz auf regionaler Ebene (der Ost-, West-, Nord- und Zentralschweiz). Ähnlich der GDK gibt es weitere Direktorenkonferenzen, also Gremien aus kantonalen Regierungsräten, die für bestimmte Bereiche zuständig sind – wie Finanzdirektoren oder Justiz- und Polizeidirektorinnen. Wiederum kann zwischen Gremien nationaler und regionaler Ebene differenziert werden. So kommt es, dass die Regierung des Kantons Bern in rund 30 interkantonalen und grenzüberschreitenden Gremien tätig ist.

Der Föderalismus ist politisch gewollt

Dieses dichte Netz an Regierungsgremien ist typisch für die Schweiz. Weltweit gesehen sind wir Spitzenreiter, wenn es um die Anzahl Exekutivgremien auf subnationaler Ebene geht. Warum? Der Föderalismus und – damit einhergehend – die Eigenständigkeit der Kantone, die in 1.-August-Reden regelmässig gelobt wird, ist auch politisch gewollt. Nicht der Bund soll zentral über alles befinden, sondern die Kantone sollen und dürfen eigenständig über viele Aspekte entscheiden, die unser Leben und unseren Alltag direkt oder indirekt beeinflussen. Doch gleichzeitig decken sich die Kantonsgrenzen nicht (mehr) mit den Arbeits- und Lebensräumen der Bevölkerung oder den Tätigkeitsräumen der Unternehmen. Die Kleinräumigkeit macht Koordination und Kooperation nicht nur wünschenswert, sondern notwendig.

Ein Ergebnis dieser kantonalen Zusammenarbeit sind interkantonale Vereinbarungen, umgangssprachlich auch Konkordate genannt. Diese führen zu einer hochgradigen, feinteiligen politischen und institutionellen Verflechtung der Kantone: Es gibt mehrere Hundert Konkordate zwischen zwei oder mehreren Kantonen – eine weitere Zahl, die im grenzüberschreitenden Vergleich riesig ist und (ebenso wie ihre Auswirkung) in der täglichen Politik wie auch in der Öffentlichkeit meist unterschätzt wird. Zum einen werden praktisch alle Bereiche durch solche Konkordate erfasst: Bildung (in diesem Bereich ist das HarmoS-Konkordat ein prominentes Beispiel), Hochschulen, Stipendien, hoch spezialisierte Medizin, Strafvollzug, öffentliches Beschaffungswesen, Polizeiausbildung, Durchführung von Lotterien usw.; zum anderen sind die finanziellen Konsequenzen von Konkordaten oder die darin geregelten Sachfragen oft bedeutender als so manches kantonale Gesetz. Und sie werden von den Exekutivgremien ausgearbeitet.

Konferenzen übersteuern kantonale Entscheidungsgremien bisweilen

Damit rückt neben ihrer Anzahl ein zweiter staatspolitischer Aspekt der Exekutivgremien in den Fokus: ihre Zuständigkeiten und Kompetenzen. Hier sagen nicht zuletzt Vertreter der genannten Gremien, es fehle ihnen an Entscheidungsbefugnissen. Doch dieses Argument trifft nur bei oberflächlicher Betrachtung zu und verkennt die herausragende Bedeutung der Konferenzen, ihre Stellung im politischen System insgesamt und die Wirksamkeit ihrer politischen Ergebnisse im Konkreten.

Die Konferenzen sind mittlerweile so stark, dass sie bisweilen kantonale Entscheidungsgremien (die der Regierungen und Parlamente) übersteuern. Dies zeigte sich auch bei der Pandemiebekämpfung. Die interkantonalen Exekutivgremien sind ein gewichtiger Machtfaktor der Politik (geworden) und mit entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen ausgestattet. Dieser Umstand findet im Begriff Exekutivföderalismus seinen Namen. Dieser bringt sowohl die Kooperation und Verflechtung der Kantone als auch die Dominanz der Regierungen in diesem Bereich zum Ausdruck. Der negative Aspekt: Durch den Exekutivföderalismus kann der Handlungsspielraum der Kantonsparlamente verringert werden, weil politische Entscheidungen von den Exekutiven vorweggenommen werden.

Wenn spezifische Merkmale des hiesigen politischen Systems aufgezählt werden, so gehören gewiss wichtige Begriffe wie direkte Demokratie oder Zauberformel genannt. Der Exekutivföderalismus darf bei der Aufzählung aber nicht fehlen, denn er ist ein massgeblicher, oftmals unterschätzter politischer Faktor in diesem Land – und in der helvetischen Ausprägung weltweit einmalig.

* Michael Strebel ist promovierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Parlamentarismus und politische Systeme. Unter anderem hat er Lehraufträge an der Fernuniversität Hagen sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin und arbeitet für verschiedene Parlamente. Er verfasste seine Dissertation über den Exekutivföderalismus.

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