Gemeindepräsidentin von Pontresina verteidigt Idee von Zweitwohnungssteuer
«Man muss Menschen ungleich behandeln»

Gemeindepräsidentin Nora Saratz Cazin (42) warnt vor Abwanderung, verteidigt ihre Idee einer Zweitwohnungssteuer – und bringt weitere Massnahmen ins Spiel.
Publiziert: 07.01.2024 um 01:05 Uhr
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Aktualisiert: 07.01.2024 um 09:57 Uhr
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Nora Saratz Cazin ist seit drei Jahren Gemeindepräsidentin.
Foto: fotoswiss.com/cattaneo
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Frau Saratz, was haben Sie gegen Unterländer? 

Nora Saratz: Absolut nichts, ich bin selber halb Zürcherin. Die Zweitheimischen sind uns wahnsinnig wichtig. Diese Menschen fühlen sich emotional sehr mit unserem Dorf verbunden. 

Die Zweitheimischen? 

Dieses Wort gibt es offiziell nicht, aber wir nutzen es ganz bewusst. Für ihre Treue sind wir den Zweitheimischen dankbar. Nichtsdestotrotz haben wir im Moment eine Situation, dass es wahnsinnig schwierig ist für die Einheimischen, noch hier oben leben zu können. Die Entwicklung geht in eine bedenkliche Richtung.

Was heisst bedenklich? Können Sie das beziffern? 

Nehmen Sie etwa die Kinderzahlen: Von 2010 bis 2022 sind bei uns 269 Kinder auf die Welt gekommen. Von diesen leben heute noch 220 in Pontresina. Wir haben mehr Wegzüge als Zuzüge. Einzige Ausnahme sind die über 50-jährigen Schweizer. Und dieser Vorgang beschleunigt sich. Deshalb stellen wir die Lenkungssteuer zur Diskussion – wir müssen aktiv werden.

Die Idee einer Steuer gab es schon einmal in Silvaplana. Das Projekt scheiterte. 

Das war allerdings vor der Zweitwohnungs-Initiative. Gegen die Steuer prozessierten die Zweitwohnungseigentümer vergeblich bis vor Bundesgericht. 2016 aber drohten sie mit Boykott und brachten damit das lokale Gewerbe dazu, an einer Gemeindeversammlung das Gesetz zu verhindern. Heute ist die Wohnraumsituation aber viel dramatischer als vor der Zweitwohnungs-Initiative.

Die Einheimischen sind doch ein Stück weit selber schuld. Es sind ja sie, die jeden geerbten Ziegenstall zum Höchstpreis an Auswärtige verhökern – und damit die Verdrängung befeuern. 

In der Vergangenheit war das sicher so. Aktuell sehen wir in Pontresina jedoch wenig Handänderungen von Einheimischen, die ihre Wohnungen als Zweitwohnungen verkaufen. Denn für viele heisst es: Wenn ich meine Wohnung verkaufe, muss ich das Tal verlassen. 

Dann betrieben die Tourismus-Gemeinden in den letzten Jahren eine falsche Wohnungspolitik? 

Ich masse mir nicht an, dies zu beurteilen. Ich führe seit drei Jahren die Gemeindebehörde, und während der letzten zwei Jahre stellten wir fest, dass immer mehr und immer schneller Wohnungen umgenutzt werden. Würden wir die bisherige Politik weiterführen, dann wäre das eine schlechte Gemeindepolitik. Darum müssen wir Massnahmen diskutieren.

Hätten die Gemeinden nicht einfach sozialen Wohnungsbau fördern können? Das Geld wäre ja da. 

Die Gemeinde Pontresina verfügt noch über kein eigenes Bauland und konnte darum nicht selbst als Bauherrin aktiv werden. Um den bezahlbaren Wohnraum zu fördern, haben wir in Pontresina eine Stiftung gegründet. Mögliche Massnahmen gibt es diverse. Ab morgen stellen wir einige dieser im Rahmen des Mitwirkungsverfahrens zur Diskussion.

Welche Ideen gibt es konkret? 

Denkbar wären auch eine allgemeine Erhöhung der Liegenschaftssteuer oder die Widmung eines bestimmten Anteils der Grundstückgewinn- und Handänderungssteuern zugunsten dieses Fonds für den Erstwohnbau. Das sind aber alles Wege, um Finanzen für unsere Stiftung zu erhalten. Mit der Lenkungssteuer hingegen wollen wir etwas anderes.

Nämlich? 

Wir verfolgen klare Lenkungsziele, und diese heissen: mehr Wohnraum für Einheimische und mehr warme Betten. Eine Wohnraumanalyse hat uns gezeigt, dass immer mehr Wohnungen in Zweitwohnungen umgenutzt werden und dass die Zweitwohnungen in den letzten Jahren immer weniger als Ferienwohnungen bewirtschaftet werden. Der Anteil kalter Betten steigt und die Einheimischen haben immer grössere Schwierigkeiten, Wohnungen zu finden. Nun muss man aber für ein Lenkungsziel die Menschen ungleich behandeln, damit sich ihr Verhalten ändert. In diesem Fall soll es unattraktiver werden, eine Wohnung als Zweitwohnung zu nutzen. Dass das von vielen als unfair betrachtet wird, ist verständlich.

Hand aufs Herz: Glauben Sie wirklich an eine Lenkungswirkung, wenn der Besitzer eines Millionenobjekts pro Jahr ein paar Tausend Franken mehr zahlen muss? 

Wir werden ab morgen einen Fragebogen zu all den möglichen Massnahmen aufschalten, um einen Diskurs führen zu können. Da gehört auch Ihre Frage mit hinein. Sollte die Lenkungswirkung ausbleiben, würde diese Massnahme wenigstens finanzielle Mittel bringen, um ihren Zweck erfüllen zu können. Für uns zentral ist es, für die Problematik und das Thema zu sensibilisieren und dass wir eine Diskussion lancieren.

Das ist Ihnen gelungen.  

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