Es brodelt in der Universität Bern. Francesca Falk (46) steht auf, geht durch ihr Büro am Historischen Institut und giesst das siedende Wasser in die Teekanne. Marokkanische Minze. «Migration und Raumfragen werden schon lange miteinander verknüpft», sagt die Dozentin für Migrationsgeschichte.
Die Migration ist auf der Liste der drängendsten Probleme der Schweizerinnen und Schweizer wieder weiter nach oben gerückt: Von Platz fünf auf Platz drei, wie die Umfrage der TX Goup von diesem Februar zeigt. In Seegräben ZH und Windisch AG wurde der Wohnraum jüngst wieder Thema, weil einzelne Mieter ihre Wohnungen verlassen müssen – um Platz für geflüchtete Menschen zu schaffen.
Platzmangel, Angst vor einer Überfremdung, «das Boot ist voll»: Die heutigen Argumente in der Migrationsdebatte seien keinesfalls neu, sagt Falk: «Schon bei der Ecopop-Initiative 2014 wurde darauf zurückgegriffen.» Die abgelehnte Initiative verlangte eine massive Einschränkung der Zuwanderung.
Auch die Schwarzenbach-Initiative – eine der umstrittensten Abstimmungen der Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts – rechtfertigten die Initianten unter anderem damit, dass Italienerinnen und Italiener der Schweizer Bevölkerung den Wohnraum wegnehmen. Die Initiative verlangte 1970, dass der Ausländeranteil in der Schweiz maximal zehn Prozent betragen dürfe. Wäre sie angenommen worden, hätten 350’000 Arbeiterinnen und Arbeiter ausreisen müssen.
Schillernder Gotthard und ausgebeutete Mineure
Die Arbeitsmigration im grossen Stil begann in der Schweiz unterirdisch. 1882 schaute die ganze Welt in die Schweiz, als ein Jahrhundertbauwerk eröffnet wurde: der Gotthardtunnel. 15 Kilometer lang, darüber einen Kilometer massiver Granit – schillerndes Schweizer Prestigeobjekt und damals längster Eisenbahntunnel der Welt.
«Im Gotthard schufteten über zehntausend italienische Mineure – finanziell ausgebeutet und unter katastrophalen Bedingungen», sagt Falk. Auch ihre Wohnungen gaben zu reden: Sie hausten in Baracken, die hygienischen Zustände waren miserabel. Ein Arzt hielt 1876 fest: «Das Elend in den für die Arbeiter hergerichteten Quartieren übersteigt in der Tat alle Begriffe.» Europaweit geriet die Schweiz wegen der schlechten Bedingungen in die Kritik.
Doch Zeit- und Spardruck waren zu gross, in zehn Jahren Gotthardbau verbesserte die Schweiz die Arbeitsbedingungen nicht. Die Italiener mussten die gefährlichsten Arbeiten übernehmen. Hunderte von ihnen starben oder wurden schwer verletzt.
Der Tod begleitete das Tunnelfieber hartnäckig, auch als die Italiener bis 1916 den Simplon, das Jungfraujoch oder den Grenchenberg durchbohrten. In Grenchen SO entstand die italienische Arbeitersiedlung Tripoli – in 67 kleinen Baracken wohnten zeitweise mehr als 1000 Arbeiterinnen und Arbeiter.
Ein Entscheid über Leben und Tod
Die Schweizer Einwanderungspolitik des 19. Jahrhunderts war grosszügig. Alle elf Lehrstühle der Universität Zürich besetzten 1833 ausländische Professoren. Ein Deutscher und ein Nachfahre italienischer Einwanderer gründeten die heute weltbekannten Firmen Nestlé und Maggi, letztere gehört seit 1947 zu Nestlé.
«Ihren Höhepunkt erreichte die Migrationswelle vor dem Ersten Weltkrieg», sagt Falk. In Grenzstädten wie Basel stammten damals bis zu vierzig Prozent der Bewohner aus dem Ausland. Mit Ausbruch des Kriegs wurde die Fremdenpolizei eingeführt, es kam zur Schliessung der Grenzen.
Erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Aufnahmepraxis mit der Landung der Alliierten in der Normandie etwas grosszügiger. «Aus Antisemitismus liess man im Zweiten Weltkrieg lange keine jüdischen Flüchtlinge in die Schweiz», sagt Falk. Das, obwohl andere Gruppen, die aus politischen Gründen fliehen mussten, hereingelassen wurden. Rassistische Ursachen bestimmten die Politik. «Das kann wie im Zweiten Weltkrieg über Leben und Tod entscheiden», sagt Falk.
Geächtet, gelobt, integriert
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs boomte die Schweizer Wirtschaft, der Bedarf an Arbeitskräften war gross – und die Grenzen öffneten sich wieder. Doch so stolz wir heute auf Panettone, Pizzerien oder die italienische Kaffeekultur sind: Zuerst fürchteten die Schweizerinnen und Schweizer die italienischen Neulinge.
«Man sagte, ihre Familien seien zu patriarchal, zu fruchtbar, kulturell zu unterschiedlich», sagt Falk. «Ziemlich genau das, was man heute über Musliminnen und Muslime sagt.»
Um sich vor einer sogenannten «Italianisierung» zu schützen, rekrutierte man später zunehmend Menschen aus dem damaligen Jugoslawien. «Sie schienen einigen kulturell näher, blonder und blauäugiger. Man hatte das Gefühl, sie würden die Schweiz weniger überfremden», sagt Falk.
Wie schnell das Image einer eingewanderten Gruppe verändern kann, zeigt sich auch am Beispiel von Sri Lanka. 1983 brach dort der Bürgerkrieg aus, hier wurden die Tamilen mit vielen Vorurteilen konfrontiert: Sie seien faul oder gewalttätig. Die Stimmung war aufgeheizt, es kam zu tödlichen Anschlägen auf Asylunterkünfte.
Dann der Wandel – und die faulen Menschen aus Sri Lanka wurden zu den fleissigen Tamilinnen und Tamilen im Gastgewerbe. Grund für den Imagewechsel: «Eine neue Gruppe war nachgerutscht, der man das schlechte Image anhängen konnte», sagt Falk.
Jugoslawien war mit einem blutigen Krieg zerbrochen, der der Schweiz Rekordzahlen von Asylgesuchen bescherte. Weil die Schweiz bereits früher Menschen aus dem Balkan rekrutiert hatte, kamen nach Kriegsausbruch umso mehr – weil sie hier bereits Verwandte hatten oder Leute kannten. «Und so wurden sie zu den neuen Sündenböcken», sagt Falk.
«Wir sind auf Migration angewiesen»
Migration für den knappen Wohnraum verantwortlich zu machen, sei zu einfach gedacht, sagt Falk. «Für die Wohnungsnot gibt es viele Ursachen: Zum Beispiel, dass Immobilien als Investitionsobjekte sehr beliebt sind.» Auch nehme der Raumbedarf pro Kopf stetig zu. Deshalb brauche es ein Umdenken in der Raumplanung, so Falk.
Oft sei nur von unerwünschten Einwanderern die Rede. «Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir auf die Migration angewiesen sind.» Ohne sie würde es als typisch schweizerisch geltende Branchen wie die Landwirtschaft nicht mehr geben – weil viele Schweizerinnen und Schweizer diese Arbeit unter den prekären Bedingungen nicht mehr machen würden. Dasselbe gelte im Pflegebereich. Falk sagt: «Die Migration hat die Schweiz erst zu dem gemacht, was sie ist.»