«Wir wissen nie, wer woher in welchem Zustand zu uns kommt»
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SEM-Sprecher Kormann:«Wir wissen nie, wer in welchem Zustand zu uns kommt»

Rund 100'000 Menschen suchten 2022 Schutz in der Schweiz
Grösste Flüchtlingswelle nach Zweitem Weltkrieg ebbt nicht ab

Schon 2022 war ein Rekordjahr. Allein 75'000 ukrainische Flüchtlinge flohen in die Schweiz. Doch auch die Zahl der Asylbewerber stieg dramatisch. Für 2023 rechnet das SEM mit 27'000 Asylgesuchen, 3000 mehr als im Jahr zuvor. Blick erklärt, warum die Migration zunimmt.
Publiziert: 14.02.2023 um 20:44 Uhr
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Aktualisiert: 17.02.2023 um 15:00 Uhr
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Diese Betten in einem Schlafsaal in einer Asylunterkunft in der Freiburger Poya-Kaserne stehen Schutzsuchenden aus der Ukraine zur Verfügung. Im vergangenen Jahr kamen 75'000 dieser Kriegsflüchtlinge in die Schweiz.
Foto: keystone-sda.ch
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Flüchtlinge gehören zunehmend zum Schweizer Alltag – auch auf dem Lande. Solange das Asylverfahren läuft, dürfen die meist jungen Männer nicht arbeiten. Langeweile und Alkoholkonsum führen zuweilen auch zu Spannungen, wie eine Reportage über das Bundesasylzentrum (BAZ) im thurgauischen Steckborn zeigt. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen zur aktuellen Situation, die das Staatssekretariat für Migration (SEM) als «grösste Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg» bezeichnet.

Wer sucht Schutz in der Schweiz?

Die grösste Zahl der Flüchtlinge kommt aus der Ukraine. So reisten 2022 über 75'000 Ukrainerinnen und Ukrainer ein. Da sie automatisch den Schutzstatus S erhalten, zählen sie nicht zu den üblichen Asylbewerbern. Im Jahr 2022 wurden 24'511 Asylgesuche in der Schweiz eingereicht, 9600 Gesuche oder 64 Prozent mehr als im Vorjahr. Über ein Viertel der Asylbewerber kommt aus Afghanistan, gefolgt von Schutzsuchenden aus der Türkei (4791 Gesuche), aus Eritrea (1830), Algerien (1362) sowie Syrien (1252).

Warum steigt die Zahl der Asylsuchenden?

Neben dem Krieg in der Ukraine spielen eine ganze Reihe von Faktoren bei der neuen Flüchtlingswelle eine Rolle. Seit dem Frühjahr 2022 wurden coronabedingte Reiseeinschränkungen aufgehoben. Manche Länder auf der Balkanroute lockerten die Visa-Bestimmungen. Die Pandemie hat viele Herkunftsländer von Asylsuchenden wirtschaftlich geschwächt. Hinzu kommen die wegen des Ukraine-Konflikts explodierenden Lebensmittelpreise. Es fliehen nicht nur Staatsangehörige der Krisenländer, sondern auch Menschen anderer Länder, die sich dort aufhielten. Die Türkei forderte im letzten Jahr die 3,5 Millionen syrischen und geschätzt 200'000 bis 300'000 afghanischen Flüchtlinge auf, in ihre Heimat zurückzukehren. Dieser Druck hat im Verlauf des Sommers 2022 zu einer deutlichen Zunahme der Migration in Richtung Europa geführt.

Warum kommen weniger Menschen aus Eritrea in die Schweiz?

Zehn Jahre lang führten die Flüchtlinge aus Eritrea die Asylstatistik in der Schweiz an. Seit 2021 gehen ihre Asylgesuche zurück. Beantragten 2014 noch 6900 Eritreer Asyl, waren es 2022 nur noch 1830. Das liegt in erster Linie am Friedensvertrag, den Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed (45) und Eritreas Staatschef Issaias Afewerki (76) zwischen den beiden Staaten 2018 unterzeichneten. Hauptgrund für die Flucht der meist jungen Männer war die Wehrpflicht, die auch lebenslang gelten konnte.

Wie sieht die Flüchtlingslage in benachbarten Staaten aus?

In Deutschland ist die Zunahme von Asylanträgen ähnlich dramatisch wie in der Schweiz. Eine Million Ukrainer fanden 2022 Schutz in der Bundesrepublik. 2022 gab es zudem insgesamt 244'132 Asylanträge. Die meisten Schutzsuchenden kamen aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und dem Irak. Vergleicht man die Zahl der Asylanträge im Januar 2023 zum Vorjahreszeitraum, so hat sie sich verdoppelt. In Österreich hat sich die Zahl der Asylbewerber 2022 mit 109'000 Anträgen sogar verdreifacht.

Ist die Flüchtlingswelle in die Schweiz heute grösser als zu Zeiten der Balkan-Kriege?

Wegen der hohen Zahl von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine wird der Rekord von 1999 gebrochen. Insgesamt suchten damals 47'513 Menschen Schutz in der Schweiz, davon 29'495 aus Ex-Jugoslawien. Die allermeisten davon, rund 90 Prozent, kamen aus dem heutigen Kosovo, der Rest aus Serbien und Montenegro. Zwischen 1998 und 1999 fanden 53'000 Flüchtlinge aus dem Kosovo-Krieg in der Schweiz Zuflucht. Mit 100'000 Schutzsuchenden im Jahr 2022 hat sich die Zahl im Vergleich zur Zeit der Balkan-Kriege also fast verdoppelt.

Wann ist die Kapazitätsgrenze der Flüchtlingsunterkünfte in der Schweiz erreicht?

Das liesse sich nicht konkret vorhersagen, sagt SEM-Mediensprecher Reto Kormann (57), dies sei mitunter von der Entwicklung verschiedener Parameter abhängig. Falls die Schweiz nicht mehr über ausreichend andere geeignete Unterkünfte verfügen sollte, blieben quasi als Ultima Ratio Zeltdörfer. Bereits Ende Oktober 2022 meldete das Staatssekretariat für Migration eine Bettennot in den Bundesasylzentren.

Warum werden immer wieder flüchtende Familien getrennt und in unterschiedlichen Unterkünften untergebracht?

Grundsätzlich gilt: Familien sollten nicht getrennt werden. «Familien werden immer in der gleichen Unterkunft und wenn immer möglich in einem Familienzimmer untergebracht», bestätigt auch SEM-Mediensprecher Reto Kormann. Bei hoher Belegung aber sei es nicht immer möglich, allen Familien ein eigenes Familienzimmer zuzuweisen. «In solchen Fällen werden die Männer mit anderen Männern einquartiert, Frauen und Kinder mit anderen Frauen und Kindern», sagt Kormann.

Aus welchem Grund dürften Asylbewerber während ihres Asylverfahrens nicht arbeiten?

Wer in der Schweiz Asyl beantragt, durchläuft ein vorgegebenes Verfahren. Dabei werden die Schutzsuchenden unter anderem wiederholt befragt. «Die Menschen haben im Laufe ihres Asylverfahrens viele Termine wahrzunehmen, zu denen sie aufgeboten werden. Sie sind zur Mitwirkung verpflichtet», sagt Reto Kormann. Das sei schlecht vereinbar mit den regelmässigen Arbeitszeiten eines Jobs.

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