«Mein letztes Buch ist immer mein Lieblingsbuch»
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Franz Hohler zu seinen Werken:«Mein letztes Buch ist immer mein Lieblingsbuch»

Interview mit Franz Hohler zum 80.
«Ohne Migration stünden wir vor dem Aus»

Am 1. März feiert Franz Hohler seinen 80. Geburtstag. Doch der Doyen der Schweizer Kabarettszene ist jung geblieben. Hier spricht er über das Kind im Manne, seine Enkelkinder sowie den Kinder- und Jugendliteraturpreis 2021.
Publiziert: 18.02.2023 um 14:40 Uhr
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Aktualisiert: 18.02.2023 um 14:45 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Herr Hohler, sind Sie in einen Jungbrunnen gefallen?
Ein schönes Wort: Jungbrunnen. Da stelle ich mir sofort alle möglichen Brunnen vor, in die munter frisches Wasser fliesst. Ja, ich wundere mich manchmal, dass ich noch so gut unterwegs bin, und zwar physisch wie geistig.

Bei Ihnen geht vieles von Alt zu Jung: 1968 erhielten Sie als erste Auszeichnung den nach dem bald 200-jährigen Dichter Conrad Ferdinand Meyer benannten Preis …
… stimmt genau …

… und zuletzt erhielten Sie 2021 den Grossen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur.
Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber jetzt, da Sie es sagen!

Der Franz im Hohler

Franz Hohler lebt mit seiner Frau in Zürich-Oerlikon. Am 1. März feiert der Doyen der Schweizer Kabarettszene seinen 80. Geburtstag. Neben seiner Bühnentätigkeit war Hohler immer auch schriftstellerisch tätig – aktuell veröffentlicht er gleich drei neue Bücher. Seine künstlerische Karriere begann er 1965 mit seinem ersten literarisch-musikalischen Soloprogramm «Pizzicato». Zuvor hatte er fünf Semester Germanistik und Romanistik in Zürich studiert. Aufgewachsen ist Hohler, geboren 1943 in Biel BE, in einer musisch begabten Lehrerfamilie in Olten SO mit seinem zwei Jahre älteren Bruder.

Thomas Meier

Franz Hohler lebt mit seiner Frau in Zürich-Oerlikon. Am 1. März feiert der Doyen der Schweizer Kabarettszene seinen 80. Geburtstag. Neben seiner Bühnentätigkeit war Hohler immer auch schriftstellerisch tätig – aktuell veröffentlicht er gleich drei neue Bücher. Seine künstlerische Karriere begann er 1965 mit seinem ersten literarisch-musikalischen Soloprogramm «Pizzicato». Zuvor hatte er fünf Semester Germanistik und Romanistik in Zürich studiert. Aufgewachsen ist Hohler, geboren 1943 in Biel BE, in einer musisch begabten Lehrerfamilie in Olten SO mit seinem zwei Jahre älteren Bruder.

Zudem veröffentlichen Sie jetzt das Buch «Rheinaufwärts», für das Sie vom Rheinfall zur Quelle gewandert sind. Fanden Sie dort den Jungbrunnen?
Zumindest das junge Wasser. Zur Quelle zu gehen, finde ich etwas sehr Schönes: Man geht zum Ursprung, während einem der Fluss ständig entgegensprudelt.

«Auf einer Brücke gehe ich über den jungen Rhein», schreiben Sie, «der übermütig über eine Felsrinne hinabschiesst, als freue er sich auf alles, was ihn erwartet.» Zu Recht?
Ja natürlich, der wartet auf sein Leben! Den jungen Rhein vergleiche ich mit einem jungen Menschen, der erwartungsfroh ins Leben hinausgeht.

Auf den erwartungsfrohen, jungen Franz Hohler von 1965 spielt Ihr neues Gesprächsbuch «Das Jahr, das bis heute andauert» an. Als wären Sie seither nicht mehr gealtert!
Ich bin nie vernünftig geworden – nach dem unvernünftigen Entschluss, die Universität damals zu verlassen (lacht).

«Jetzt mache ich ein Jahr lang Auftritte und schreibe, dann sehe ich weiter», sagen Sie rückblickend im Buch. «Und dieses Jahr dauert bis heute an.» Was verbindet Sie mit dem damals 22-jährigen Franz Hohler?
Anhaltende Zuversicht. Und Neugierde auf das, was noch kommt.

Über bedrohliche Zeiten: «Als Jugendlicher hatte ich grosse Angst vor einem Atomkrieg.»
Foto: Thomas Meier

Die aktuelle Weltlage lässt allerdings wenig Gutes erwarten.
Als Grundstimmung war ich schon immer Optimist. Mein Entschluss von damals brauchte Selbstvertrauen und die Zuversicht, dass es schon gut kommt. Aber natürlich ist das Leben nie berechenbar.

Tun Ihnen junge Menschen heute manchmal leid?
Das gibt es schon. Der Klimawandel ist zum Beispiel eine Tatsache, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind – etwa, wenn man weiss, dass die Gletscher, die man heute sieht, in 50 Jahren weg sind. Es gibt viel, bei dem es einem für die junge Generation angst und bange wird.

Aber Sie sind ja Optimist!
Ja, und das habe ich sogar in den Genen: Meine Geburt in Biel fiel in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Man wusste damals nicht, wie es weitergeht und ob die Schweiz nicht doch noch in den Krieg verwickelt wird. Ich war ein War-Baby – und meine Eltern waren dennoch zuversichtlich.

Woher nahmen sie die Zuversicht?
Wahrscheinlich waren die Zeiten nie gut: Die Menschheit musste immer mit Problemen und Bedrohungen leben. Als Jugendlicher hatte ich grosse Angst vor einem Atomkrieg. Als ich im Gymi war, zündete China die erste Wasserstoffbombe – das war für mich ein Riesenschreck.

Gibt es etwas, wofür Sie die heutige Jugend beneiden?
Neid ist nicht das richtige Wort, aber es freut mich, dass sie in einer freieren Welt aufwächst als wir damals. Wenn ich heute jungen Menschen sage, dass eine verheiratete Frau von ihrem Mann eine Genehmigung brauchte, um ein Bankkonto zu eröffnen, dann fragen die entsetzt: «Wie war das möglich?»

Gibt es noch andere Bereiche, in denen die Welt heute freier ist?
Sexuelle Tabus von früher wie Homosexualität oder non-binäre Lebensformen sind heute akzeptiert. In meiner Jugendzeit war das schwer unter dem Deckel. Auch die Selbstverständlichkeit von Migration und binationalen Beziehungen macht das Leben heute freier.

Andererseits gibt es da auch einen Backlash.
Ja, und ich bin kein Migrationsidylliker, der behauptet, es gebe keine Probleme – es gibt grosse Probleme mit der Integration. Doch es ist sinnlos zu sagen, Migration sei gut oder schlecht: Migration ist eine Tatsache. Und schauen Sie in unsere Spitäler und Pflegeheime: Ohne Migration stünden sie vor dem Aus. Ich bin zuversichtlich, dass die Vernunft obsiegt.

Zuversichtlich waren Sie auch hinsichtlich «Pizzicato», Ihrem ersten Bühnenprogramm von 1965. Wodurch zeichnete es sich aus?
Es war ein Programm, in dem ich meinen Bildungsballast verarbeiten, um nicht zu sagen: abwerfen musste. Ich trat damals mit einem Pianisten auf. Bei der ersten und letzten Nummer begleitete ich mich selber mit dem Cello und merkte, dass das sonst niemand macht.

Über das Cello: «Bei der ersten und letzten Nummer begleitete ich mich selber mit dem Cello.»
Foto: intern

Ihr Markenzeichen war geboren. Wie kam «Pizzicato» beim Publikum an?
Das Programm kam recht gut an. Gesamthaft hatte ich etwa 150 Aufführungen, allein in Berlin war ich sechs Wochen, da die Texte hochdeutsch waren. Es gab genug positives Echo, sodass ich sagte: «Doch, diesen Weg kannst du weitergehen.»

Bereits in Ihrem zweiten Programm, «Die Sparharfe» von 1967, kam das berühmte «Totemügerli» dazu – ein Hit bis heute!
Ja, ich bin gerührt.

Hatten Sie keine Angst, mit einem solchen Text in einer dialektalen Kunstsprache das deutsche Publikum zu überfordern?
Das habe ich in Deutschland nie aufgeführt – das Publikum dort hätte nicht gemerkt, dass es eine Persiflage ist. Aber das «Totemügerli» ist auch für Schweizer Ohren in einer unverständlichen rhythmischen Sprache verfasst, die auf einem seltsamen Umweg verständlich wird.

Das ist Slam Poetry, bevor der Begriff bekannt war. Sind Sie ein Vorreiter?
Vielleicht: Meine Ballade «Der Weltuntergang» aus dem Jahr 1973 ist ein Rap avant la lettre. Zudem beschreibt der Text den Klimawandel und Treibhauseffekt. Die Jungen heute sind jeweils beeindruckt, dass die Ballade schon 50-jährig ist.

Ab den 1970er-Jahren bedienten Sie auch Kinder. War das eine Reminiszenz an Ihre damals jungen Söhne?
Als meine Söhne mit Jahrgang 71 und 74 ins Geschichtenalter kamen, war das schon eine Anregung für mich. «Tschipo», den ersten Kinderroman, erzählte ich zuerst meinem älteren Sohn, als wir auf einer griechischen Insel in den Ferien waren.

Wie kam es dazu?
Ich sagte ihm als Vorbereitung auf die Ferien, ich werde ihm dort jeden Tag eine Geschichte erzählen. Darauf wollte er wissen, ob das eine Geschichte sei, die ich einfach erfinde – er hatte das Gefühl, richtige Geschichten müssen in einem Buch sein. Da wusste ich, dass ich aus dieser Geschichte ein Buch machen musste.

Gleichzeitig lockten Sie Kinder vor den Fernseher: Ab 1973 traten Sie mit Pantomime-Künstler René Quellet in der TV-Sendung «Spielhaus» auf.
Das Programm «Franz und René» war explizit für Vorschulkinder gemacht.

Würden Sie das heute über Tiktok oder Instagram verbreiten?
Wenn ich heute jung wäre, würde ich dort vermutlich etwas probieren. Obwohl ich nirgendwo aktiv bin und nichts von mir hochlade, kommen meine Beiträge dennoch auf Tiktok und Youtube – das geschieht wie von selbst.

Über das Lesepublikum: «Ich schreibe einen Text auf, sodass er für mich stimmt.»
Foto: Thomas Meier

Schauen Ihre drei Enkelkinder noch TV?
Gewisse Sendungen. Aber sie schauen auch einfach Filmchen, die man abrufen kann. Zum Beispiel «Scacciapensieri», was schon meine Söhne schauten. Die Enkelin ist zehn und liest pro Tag ein Buch, die Enkel sind erst fünf und zwei Jahre alt. Aber ich bewahre meine Bücher für sie auf.

Bis heute haben Sie über 20 Bücher für Kinder und über 40 für Erwachsene geschrieben. Wie entscheiden Sie sich jeweils, für wen Sie gerade schreiben?
Ich denke nicht sofort an ein Publikum. Ich schreibe einen Text auf, sodass er für mich stimmt. In «Das grosse Buch» sind etwa 90 Kindergeschichten drin, obwohl ich ungefähr ein Drittel davon gar nicht für Kinder geschrieben hatte. Es ist nicht so, dass Kinder grundsätzlich andere Menschen sind als Erwachsene.

Gibt es dennoch Unterschiede, die Sie beachten?
Für Kinder versuche ich, komplizierte Satzkonstruktionen zu vermeiden – die würde ich für Erwachsene schreiben, denn ich mag verschachtelte Sätze. Oder ich verzichte auf Fremdwörter.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Meine Erzählung «Die Göttin», in der ein Gott einer Göttin beim Erschaffen der Welt zuschaut. Für die Erwachsenen schrieb ich: «Er wäre nie auf die Idee gekommen, eine Substanz wie Wasser zu erschaffen.» In der Kinderversion heisst es dann: «Er wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas wie Wasser zu erschaffen.»

«Das Kind im Manne» heisst eine andere Kindererzählung von Ihnen. Wie bewahren Sie das Kind in sich?
Indem ich die Tür zum eigenen Kinderzimmer nie ganz zuschlage. So spreche ich zum Beispiel gerne mit Gegenständen. Wenn mir etwas runterfällt, sage ich etwa: «Ah, du willst hinunterfallen. Was ist denn dort unten so spannend?» «Am Boden ist es viel lustiger!»

Sie beleben sozusagen tote Materie.
Ich bewege mich gerne in einer Welt, in der die Grenzen noch nicht so fest gezogen sind. Von daher ist es kein Zufall, dass ich die TV-Sendung «Spielhaus» für das Vorschulalter machte. Sobald man in die Schule kommt, werden die Regeln strenger, und die Vernunft übernimmt das Diktat.

Da höre ich eine gewisse Kritik heraus – obwohl Sie selber aus einem Lehrerhaushalt kommen.
Ja, denn die Einschulung bedroht die Fantasie. Dass die nicht verloren geht, wäre für mich ein wichtiges Bildungsanliegen. Dasselbe gilt für den Humor. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass ein Kind 400-mal am Tag lacht, ein Erwachsener 15-mal.

Sie haben sich offensichtlich den Humor bewahrt. «Gut hat er’s gemacht», schreiben Sie im Epilog von «Rheinaufwärts» angesichts des gealterten Rheins in Bonn, «ich bin stolz auf ihn.» Würden Sie das auch über sich sagen?
Nein, stolz würde ich nicht sagen. Stolz darf ein Vater auf seine Kinder sein. Ich würde es so formulieren: Ich freue mich, dass es mir gelungen ist, von meinen Ideen und mit meinen Ideen durchs Leben zu gehen und immer wieder neue Ideen zu haben.

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