«Mengele schickte mich in die Gaskammer»
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Holocaust-Überlebende:«Mengele schickte mich in die Gaskammer»

Sie kämpfte gegen das Vergessen
Sie erzählte Tausenden Schülern von Auschwitz – jetzt ist sie für immer verstummt

Mit Nina Weil stirbt eine der letzten Schweizer KZ-Überlebenden, die in der Öffentlichkeit immer wieder über ihr Schicksal sprachen. Droht der Holocaust in der Schweiz nun in Vergessenheit zu geraten?
Publiziert: 26.11.2023 um 20:00 Uhr
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Aktualisiert: 27.11.2023 um 17:34 Uhr
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Nina Weil kehrte Ende Januar 2020 mit dem SonntagsBlick nach Auschwitz zurück.
Foto: Thomas Meier
Benno Tuchschmid
Benno TuchschmidCo-Ressortleiter Gesellschaft

Als Nina Weil in Auschwitz ankam, war sie elf Jahre alt. Man tätowierte ihr die Zahlen 71978 auf den Unterarm. Sie weinte. Nicht wegen der Schmerzen, nein, weil sie ihren Namen verlor und zu einer Nummer wurde. Ihre Mutter versprach, ihr später ein Armband zu kaufen, damit niemand die Zahlen sehen könne.

So erzählte Nina Weil es im Februar 2020 der SonntagsBlick-Magazin-Reporterin Aline Wüst (lesen Sie hier den ganzen Artikel). Die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (63) hatte Weil und weitere Schweizer Holocaust-Überlebende zum 75. Jahrestag der Befreiung nach Auschwitz geflogen.

Nina Weil war als 88-Jährige zurück an dem Ort, an dem man ihr den Namen genommen hatte. Wo sie als kleines Mädchen eines Morgens in der Baracke aufwachte und ihre Mutter ganz kalt neben ihr lag. Nina fragte ihre Mutter, ob sie friere. Ihre Mutter war tot. Das Armband konnte sie ihr nicht mehr kaufen.

«Mengele schickte mich in die Gaskammer»
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Holocaust-Überlebende:«Mengele schickte mich in die Gaskammer»

Nun ist auch Nina Weil nicht mehr. 

Eine Frau gegen das Vergessen

Vor zwei Wochen starb sie 91-jährig in ihrem Wohnort im Kanton Zürich. Geboren wurde Nina Weil in Tschechien. Zum Zeitpunkt ihrer Deportation lebte ihre Familie in Prag. Über acht Monate war sie in Auschwitz. Nach dem Krieg wuchs sie in einem Waisenhaus auf und lernte im Internat ihren späteren Mann kennen. Nina Weil arbeitete als Laborantin. Als 1968 die Russen in Prag einmarschierten, waren sie zufälligerweise in der Schweiz in den Ferien. Sie blieben. 

Kinder hatten sie keine, weil sie Auschwitz nie vergessen konnte. Nie vergessen konnte, wie die Nazis sie anbrüllten. «Niemand sollte Kinder von mir je so anschreien können», sagte sie.

Mit Nina Weil ist eine der letzten Holocaust-Überlebenden in der Schweiz verstorben. Eine Frau, die viel gegen das Vergessen, Antisemitismus und Rassismus tat. Eine Frau, die niemand vergisst, der ihr begegnet ist. 

Und Nina Weil traf viele Menschen, insbesondere Jugendliche. Gemäss Anita Winter (61) hat Nina Weil Tausende Schüler in der Schweiz besucht, um über den Holocaust zu reden. Winter präsidiert die Gamaraal Stiftung, die sich um Holocaust-Überlebende in der Schweiz kümmert. Sie sagt: «Ihre Stimme wird unglaublich fehlen. Sie wird immer in unseren Herzen bleiben.» 

Nina Weil sagte einst in einem Interview: «Die jungen Leute sollten die Geschichte Europas kennen, sollten wissen, was damals passiert ist. Auch wenn es für sie weit weg ist und sie heute anderes beschäftigt. Ich wünsche mir, dass die Jungen für das Gute kämpfen.»

Leider ist das Thema Vergessen von bedrückender Aktualität. Der Tod von Nina Weil rückt eine Frage ins Zentrum: Wer schildert der jungen Generation, wozu Judenhass in seiner schlimmsten Konsequenz führen kann? 

Jugendliche reden mit Jugendlichen

In einer kürzlich von Blick in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Sotomo gaben 15 Prozent der Jungen zwischen 18 und 25 Jahren an, sehr oder eher positive Gefühle gegenüber der Hamas zu haben. 

Die Terrororganisation hat die Auslöschung des jüdischen Staates Israel in ihrem Programm. In keiner anderen Altersgruppe gibt es vergleichbar hohe Werte. Vertreter der Generation Z, wie die Klimaaktivistin Greta Thunberg (20), fallen zudem mit Äusserungen auf, die von vielen als antisemitisch taxiert werden. 

Wächst hier eine Generation heran, die ihre Grundwerte nicht mehr am Holocaust als absolutem Nullpunkt ausrichtet? Eine Generation, die vergessen hat? 

Die Losung «Nie wieder» prägte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs Generationen. Auch weil Menschen wie Nina Weil immer wieder daran erinnerten, was sich nicht wiederholen darf.

«Wir können die Überlebenden nicht ersetzen», sagt Jonathan Kreutner (44), Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Doch er sieht Grund zur Hoffnung. Zum Beispiel in der Initiative Likrat: In diesem Dialog- und Aufklärungsprojekt gehen jeweils zwei junge jüdische Menschen in eine Schule und diskutieren mit Schülerinnen und Schülern. Auf Augenhöhe, wie Kreutner betont.

«Jugendliche reden mit Jugendlichen. Es geht dabei nicht nur um Antisemitismus, sondern allgemein um jüdisches Leben in der Schweiz.» Kreutner betont, es gehe darum zu erleben, wie vielfältig jüdisches Leben in der Schweiz sei, dass es religiöse und nichtreligiöse Juden gebe, unterschiedliche Meinungen. 

Es würden von Schulen auch explizit Jugendliche angefragt, die in der Familie Opfer der Shoa haben. «Wenn Jugendliche aus ihrer Familie erzählen, hat das eine enorme Wirkung.»

Über 120 Besuche organisiert Likrat jährlich. Die Initiative ist eine Schweizer Erfindung und längst auch im Ausland angekommen. In Deutschland, Österreich und weiteren Ländern gibt es Projekte, die auf dem Modell basieren.

Sie liess das KZ nie hinter sich

Nina Weils Erbe wirkt über ihren Tod hinaus. Nicht nur im Geiste, auch ganz konkret: Ein Video, in dem sie von Auschwitz erzählt, ist heute Teil der fixen Ausstellung im Landesmuseum Zürich.

SonntagsBlick-Fotograf Thomas Meier machte in Auschwitz ein Foto von Nina Weil. Ein Bild, das wehtut. Nina Weil, wie sie vor der Gedenkstätte steht. Der Blick in die Kamera gerichtet. Auf ihrem Arm noch immer die Häftlingsnummer. Nina Weil hatte überlebt. Doch hinter sich liess sie das KZ nie. Das Mindeste, was wir tun können, ist, sie nicht zu vergessen.

Interessierte Lehrpersonen können sich bei der Gamaraal Stiftung und bei Likrat melden, um Schulbesuche zu organisieren.

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