Freitagmorgen am Stadtrand von Zürich. Im Klassenzimmer der SchülerInnenSchule Zürich ist es ganz still. Nur zwei Menschen sprechen, nicht viel älter, als die 13- bis 15-Jährigen, die vor ihnen sitzen: Liora (19), Gymnasiastin und Jonathan (23), Student. Sie sind jüdisch. Und gehören zu Likrat – dem Aufklärungsprogramm des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG).
Sie sind gekommen, um die 7. Klasse zu informieren. Jonathan sagt: «Ob jemand jüdisch ist oder nicht, sieht man den allermeisten nicht an.» Und Liora ergänzt: «Das Bild, das die Gesellschaft vom Judentum habe, ist von Medien gemacht.» Oft stelle man sich Juden als Frauen mit Perücke, Männer mit Hüten vor – wie es bei den Strenggläubigen üblich ist. Das sei einseitig. Die Jugendlichen nicken langsam, am Ende der Doppelstunde werden sie verstehen.
Früh ansetzen
Seit zwanzig Jahren besuchen jüdische Menschen wie Liora und Jonathan Schulen, Unternehmen, Spitäler, Hotels oder Armeekasernen. Beantworten Fragen wie: Wer sind jüdische Menschen? Was glauben sie? Wie leben sie? Der SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner sagt: «Gerade mit der Arbeit an den Schulen setzen wir dort an, wo Stereotypen entstehen und wo man diese noch beeinflussen kann: bei den Jungen.» Dafür gibt der Verein laut Kreutner rund eine viertelmillion Franken pro Jahr aus. Bislang stemmte dieser die Kosten alleine. Das soll sich nun ändern, der SIG fordert: der Staat soll sich mehr engagieren. Denn der neueste Antisemitismusbericht zeigt: Der Hass auf jüdische Menschen nimmt zu.
Antisemitismus ist auch im Klassenzimmer in Zürich Thema. Kurz nach der Begrüssung hebt ein Schüler die Hand, fragt, ob Liora und Jonathan schon schlechte Erfahrungen machen mussten. Die junge Frau bejaht, erzählt: Sie besuchte lange nur jüdische Schulen. Mit 15 wechselte sie an eine öffentliche Fachmittelschule in der Schweiz. Nach zwei Monaten machte ein Mitschüler in der Pause vor ihr den Hitler-Gruss. Liora sagt: «Damals wusste ich nicht, wie ich reagieren sollte und sagte nichts. Heute melde ich solche Vorfälle.»
Das Thema beschäftigt, immer wieder schiesst eine Hand hoch, hakt jemand nach. Das freut die Schulleiterin Nina Peduzzi. Sie sagt: «Für einmal können die Jugendlichen ihren ganzen Gwunder rauslassen, ohne Tabus.» Das sei wichtig. Fakt sei: Je mehr man über etwas Bescheid weiss, desto weniger hat man Angst davor. «Wenn Angst behandelt werden kann, kann auch Diskriminierung behandelt werden.»
Koschere Gummibärli
Neben Diskriminierung und Holocaust kommt auch leichtere Kost auf den Tisch. Essen! Koscheres Essen! Jonathan fragt, ob sie wüssten, was das sei? Einige nicken. Koscher, erklärt er, sei zum Beispiel Fleisch, das von wiederkäuenden Säugetieren mit gespaltenen Hufen stamme. Also von Kühen, Schafen, aber nicht von Schweinen – diese seien keine Wiederkäuer. Und Meerestiere müssen Flossen und Schuppen haben. Alles klar? Eine Testfrage soll’s zeigen: Welches Fleisch und welcher Fisch ist koscher – oder gerade nicht?
Ein Schüler hebt die Hand, sagt: «Mein Opa in Holland macht gerne Schweinebraten, das geht nicht.»
Ein zweiter ergänzt: «Bei uns in Portugal isst man gerne grillierten Tintenfisch, verboten, oder?»
Auch ein dritter weiss gut Bescheid: «Es gibt sogar koschere Gummibärli mit Rindergelatine.»
Irgendwann trauen sich die Jugendlichen mehr. Ein Junge mit Kapuzenpulli will es genauer wissen: «Geht ihr in den Ausgang und trinkt Alkohol und macht Sachen, die nicht so löblich sind?»
Jonathan lächelt, sagt: «Ich gehe gerne in den Ausgang. Im Judentum feiert man gerne.» Zum Beispiel den Schabbat, den Ruhetag, der von Freitagabend bis Samstagabend dauere und den die Familien jede Woche mit einem schönen Essen mit Wein einläuteten.
Ein anderer will es genauer wissen: «Werden Homosexualität und Abtreibungen im Judentum toleriert?»
Die Antwort folgt prompt: Gemäss einem jüdischen Gebot darf man kein Menschenleben verschwenden. Wenn man Sex hat, dann nur mit Aussicht auf Kinder. Das heisst für jene Gläubigen, die danach lebten: Sex immer ohne Kondom, gleichgeschlechtlicher Sex ist Tabu, genauso wie Abtreibungen. Doch Israel hat eine grosse Gay-Szene. Jonathan sagt: «Viele jüdische Menschen leben nicht oder nur teilweise nach den Regeln des Judentums.»
Der Besuch hinterlässt Spuren
Er hat kein Problem mit Fragen wie diesen. Kennt solche Situationen gut. «Am Anfang sind die Kinder immer etwas distanziert.» Sie dächten: Jetzt kommt eine jüdische Person, die ist anders. Das lege sich durch den Austausch. Die Neugier wachse, die Fragen würden konkreter.
So wie in Zürich. Die Begegnung löst etwas aus. Basil (13) sagt nach der Doppelstunde: «Jetzt habe ich noch mehr Respekt, weil ich mir besser vorstellen kann, wie Juden leben.» Und für Stella (15) war es eine Bestätigung. Sie habe jüdische Menschen nie als anders wahrgenommen. «Diskriminierung von anderen Religionen sind sowas von unnötig.»