Die Zahlen sind alarmierend. Rund 32 antisemitische Übergriffe registriert der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) in der Schweiz seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober. Normalerweise seien es um die 50 Fälle pro Jahr, betont Jonathan Kreutner (44), Generalsekretär des SIG.
«Zugenommen haben auch gravierende Fälle von Antisemitismus. In den letzten zwei Wochen waren es vier derartige Fälle. Sonst ist es einer alle zwei Jahre.» Bei gravierenden Fällen handelt es sich um physische Angriffe auf jüdische Personen. «Das ist sehr untypisch. Vor allem, da die Eskalation in Israel gar noch nicht richtig begonnen hat», so Kreutner.
«Die Zeiten sind rau, auch in der Schweiz»
Dementsprechend verunsichert seien Teile der jüdischen Gemeinde in der Schweiz. Blick weiss von mehreren jüdischen Personen, die sich seit einigen Tagen in der Schweiz nicht mehr sicher fühlen. «Auch ich bin wachsamer geworden», sagt Jonathan Kreutner. «Aber ich fühle mich in der Schweiz sicher, ich vertraue den Behörden.» Von Zuständen wie in Deutschland oder Frankreich, wo der Antisemitismus stellenweise offen zur Schau getragen werde, sei man in der Schweiz weit entfernt.
Trotzdem beobachtet Ralph Lewin, Präsident des SIG, gefährliche Tendenzen. In einem offenen Brief an die jüdische Gemeinde schreibt er: «Die Zeiten sind rau, auch hier in der Schweiz. Es herrscht ein Gefühl der Verunsicherung. Ein starker Anstieg antisemitischer Vorfälle und Demonstrationen, an denen die Auslöschung Israels gefordert wird, beunruhigen uns.»
Antisemitismus aus der Mitte der Gesellschaft
In den letzten Jahren konnten antisemitische Angriffe in der Schweiz klar einer Gruppe zugeordnet werden. Das sei in der aktuellen Situation anders, betont Kreutner. «Während wir früher eher Übergriffe aus dem migrantischen Umfeld verzeichneten, sind die Angriffe nun schwer einzuschätzen. Sie kommen eher aus der Mitte der Gesellschaft.» Zwar sei Antisemitismus schon immer in der Mitte der Gesellschaft vorhanden gewesen. Dass er jetzt aber durch die jüngsten Ereignisse so an die Oberfläche komme, sei ein neues Phänomen, so Kreutner.
Keine negativen Erfahrungen gemacht hat bisher Jehuda Spielman. Der 28-jährige FDP-Gemeinderat der Stadt Zürich ist Mitglied der orthodoxen jüdischen Gemeinde und trägt stets die jüdische Kopfbedeckung Kippa. «Hier in Zürich-Wiedikon ist man sich die Präsenz von jüdischen Menschen gewohnt. Für mich hat sich in den letzten zwei Wochen nichts geändert.» Aus Sicherheitsgründen auf äussere Merkmale zu verzichten, sei keine Option.
«Wir dürfen keinen Schritt zurück machen, sondern müssen nach vorne und uns den Diskussionen stellen», so Spielman. Jetzt sei der Zeitpunkt, um Farbe zu bekennen. «Natürlich kann jeder für sich entscheiden, ob er jüdische Erkennungsmerkmale tragen möchte. Aber es wäre schön, wenn es der eine oder andere zusätzlich machen würde, um zu zeigen, dass die Juden mitten in der Gesellschaft und nicht irgendwelche Exoten sind.»
Mario Fehr besucht Synagogen
Letztlich sei es nicht an der jüdischen Gemeinde, Antisemitismus zu bekämpfen, sondern die Aufgabe der Zivilgesellschaft. «Man darf nicht zulassen, dass jemand am Stammtisch einen antisemitischen Spruch macht und keinen Widerspruch bekommt», so Spielman. Unterstützung im Kampf gegen Antisemitismus erhält die jüdische Gemeinde am Wochenende aus der Politik. Der Zürcher Regierungspräsident Mario Fehr besuchte am Samstag drei Zürcher Synagogen und trug dabei auch beim Gang durch die Stadt eine Kippa.
Er habe sich mit dieser Aktion mit der jüdischen Gemeinschaft solidarisieren wollen, lässt er ausrichten. Ein klares Bekenntnis zur jüdischen Gemeinde, die dieses gern annimmt. «Wir dürfen uns das jüdische Leben in der Schweiz nicht einschränken lassen, das wäre verheerend», sagt Generalsekretär Jonathan Kreutner. «Das wäre eine komplette Kapitulation vor dem Terrorismus.»