Gabor Hirsch (90) steigt aus dem Minibus. Seine beiden Söhne Mathias und Michael stützen ihn. Als er vor dem Bus steht, holen die Söhne den Rollstuhl, helfen ihm, sich zu setzen. «Das Alter hat nicht nur Vorteile», sagt Hirsch schmunzelnd, «trotz AHV.» Still sitzt er nun in seinem Rollstuhl, nur die Augen wandern. Menschen stehen Schlange. Guides rufen nach ihrer Gruppe. Ein Car fährt auf den Parkplatz, voll mit Touristen – Tagesausflug ab Krakau, 27 Franken. Hirsch trägt blaue Sneakers, seine Jacke ist offen. Er würde nicht sagen, dass ihm kalt ist. Aber er nimmt die Faserpelzjacke, die ihm als Decke angeboten wird. Hirsch wird an Wartenden vorbeigeschoben, muss nicht wie die anderen Besucher durch den Metalldetektor, bekommt aber wie alle einen Kopfhörer, damit er hören kann, was der Guide über diesen Ort erzählt. Er zieht die Kopfhörer an. Doch erzählen muss ihm niemand, was in Auschwitz geschehen ist. Gabor Hirsch war da.
1939, Prag. Nina Weil war sieben Jahre alt. Sie hatte eine Puppe, eine wunderschöne. Ihr vertraute sie alles an. Ihre Mutter weinte, als die deutschen Panzer einfuhren. Nina durfte nun nicht mehr zu Schule, nicht mehr mit ihren nichtjüdischen Freundinnen spielen. Nicht einmal mehr mit ihnen sprechen. Die Lehrer in der jüdischen Schule, in die sie nun ging, gaben sich Mühe, den Unterricht aufrechtzuerhalten. Doch jeden Tag waren weniger Kinder im Klassenzimmer. Eines Tages war auch Nina nicht mehr da. Das Mädchen sass mit ihrer Puppe im Zug. Als dieser in Theresienstadt hielt, mussten sie und ihre Mutter alle Wertsachen abgeben. Nina kam in die Kinderbaracke. Sie erzählte ihrer Puppe, dass die Deutschen immer schreien. Nina erkrankte an Typhus. Ende 1943 musste sie mit ihrer Mutter in einen Viehwaggon steigen. Als der Zug anhielt und sie aussteigen durften, war da ein unvorstellbares Durcheinander – Schreie, Schüsse, bellende Schäferhunde. Nina, ihre Mutter und die Puppe waren in Auschwitz.
Gabor Hirsch und Nina Weil sind zwei Holocaust-Überlebende, die heute in der Schweiz leben. Vergangene Woche sind sie für die Gedenkfeier zum 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz an den Ort des Schreckens zurückgekehrt.
Den Namen verloren
Gabor Hirsch wird von seinem Sohn Michael ins KZ-Gelände hineingeschoben. Die Strasse ist uneben, der Rollstuhl holpert. «Papa, geht das für dich?», fragt er. Gabor Hirsch nickt. Sie biegen rechts ab, gehen unter dem Tor «Arbeit macht frei» hindurch. Er und seine Söhne waren an der Gedenkfeier. Einen Tag später besucht Hirsch zusammen mit einer Gruppe von vier anderen Überlebenden das Konzentrationslager. Michael richtet seinem Vater den Kopfhörer. Einer der anderen Überlebenden will seine Geschichte mit der Gruppe teilen: «Ich war hier. Hier in Auschwitz.» Er sei vor einem Bahnwaggon gestanden, zwölf Jahre alt sei er gewesen. Seine Mutter und seine Geschwister seien schon im Waggon gewesen. Er habe geweint, wollte auch rein. Dann sei ein Wunder geschehen. «Jemand nahm mich und schubste mich auf die andere Seite – ein Engel!» Er wurde zum Arbeiten eingeteilt. «Deshalb überlebte ich. Gott wollte, dass ich lebe.» Er habe so viele Geschichten zu erzählen, sagt der alte Mann. Gabor Hirsch hätte auch viel zu erzählen. Doch er bleibt still. Seine Augen aber sind hellwach.
Als Nina im Alter von elf Jahren in Auschwitz ankam, durchsuchten die Deutschen das Gepäck, nahmen Nina die Puppe weg, zerstörten sie. Nina weinte. Sie musste sich ausziehen, die Haare wurden geschnitten. Sie bekam Kleider voller Läuse, an die Füsse Holzpantoffeln. Sie wurde tätowiert. 71978. Wieder weinte Nina. Nicht weil es schmerzte – sondern weil sie durch die Nummer ihren Namen verlor. Die Mutter versprach, dass sie ein breites Armband bekomme, sobald sie frei sind, damit niemand die Nummer mehr sehe.
Emotionen weggeschlossen
Die Gruppe mit Gabor Hirsch und seinen Söhnen geht weiter durchs Lager. Sein Sohn Michael sagt: «Wenn mein Vater über diese Zeit spricht, tut er es pragmatisch und mit wenig Emotionen. Ich denke, es war der einzige Weg, wie er hier drinnen überleben konnte – indem er seine Emotionen wegschloss.» Das habe das Familienleben geprägt. Auch er selber sei lange Zeit entkoppelt gewesen von seinen Emotionen, sagt Michael. «Ich war schon früher in Auschwitz mit meinem Vater.» Nie seien bei ihm Tränen geflossen. Seit er vor knapp einem Jahr selber Vater geworden sei, habe er jedoch Zugang zu seinen Gefühlen gefunden. Bei diesem Besuch in Auschwitz fliessen die Tränen. «Es hat für mich eine reinigende Wirkung, wie ein Gefühlsstau, der sich löst.» Michael steht mit seinem Vater vor der Gaskammer. Sie gehen nicht hinein.
Nina war im Kinderblock. Ihre Mutter im Frauenblock. Mehrmals am Tag mussten die beiden mit den anderen Gefangenen Appell stehen. Im Durcheinander davor rannte Nina jeweils zu ihrer Mutter. An einem Morgen lag die Mutter in der Baracke, sprach nicht, war ganz kalt. Nina fragte, ob sie friere. Keine Antwort. Nichts. Nina bekam Angst, rannte raus. Da war ein Deutscher. Nina sagte ihm, dass ihre Mutter ganz kalt sei. Er schrie sie an. Die Mutter wurde hinter der Baracke in den Schnee gelegt. Jeden Tag ging Nina zu ihr, wischte den Schnee von ihrem Körper. Bis sie an einem Morgen kam und die Mutter nicht mehr da war. Da wurde Nina klar, dass sie nun ganz allein war.
Fehlende Zivilcourage
Zurück beim Minibus erhebt sich Gabor Hirsch mit Hilfe seiner Söhne aus dem Rollstuhl. Sie helfen ihm einzusteigen. Auschwitz ist riesig. Die Nazis hatten hier in diesem südpolnischen Ort drei verschiedene Lager. Der Bus fährt vom Stammlager, wo das Museum ist, in Richtung Birkenau, das grösste der drei Lager. Drei Kilometer ist es entfernt, knapp. Mathias sitzt ganz hinten im Minibus. Was sein Vater in Auschwitz erleben musste, prägt auch sein Leben. «Wie wäre es heute?», frage er sich oft. Mathias denkt an die vielen Menschen, die damals ihre Augen verschlossen, keine Zivilcourage hatten, den ungeheuerlichen Plänen Nazis zu widersprechen. Mathias hat viel darüber nachgedacht, wie das war damals – beobachtet genau, was heute ist. Der Minibus fährt den Stacheldraht entlang. Dahinter reiht sich Baracke an Baracke.
Es war 1944, als Nina zum wiederholten Mal zu einer Selektion musste. Doktor Mengele stand dort. Er zeigte nur mit dem Finger – links oder rechts. Als Nina zuvorderst war, deutete er nach rechts. Dort waren die Kranken, die Schwachen. Das Mädchen sagte Mengele, dass seine Mutter gestorben sei, es noch einmal Prag sehen wolle. Mengele zeigte nach links. Auf die Seite der Menschen, die zum Arbeiten geschickt wurden.
Es gibt keine Worte
In Auschwitz-Birkenau liegen Kerzen bereit. «Sieben. Ich brauche sieben Kerzen», sagt der Überlebende, der zuvor erzählte, wie seine Mutter und seine Geschwister abtransportiert wurden. Da ist eine Stufe. Gabor Hirsch überwindet sie mit der Hilfe seiner Söhne. Hinter ihm die Baracken, die Wachtürme, der Stacheldraht. Die kleine Gruppe steht nun vor den Ruinen eines der Krematorien. Über sechs Millionen Juden wurden von den Nazis ermordet. Über eine Million Menschen allein hier in Auschwitz. Nun stehen hier an diesem Nachmittag fünf Menschen, die überlebten – gehalten von den Armen ihrer Töchtern und Söhne.
Mehr als acht Monate war Nina in Auschwitz. Ihre Puppe hatte sie seit ihrer Ankunft dort nicht mehr. Sie konnte ihr nicht erzählen von den Kaminen und vom Rauch, der so anders ist als der Rauch, der sonst aus den Kaminen kommt. Von der Kälte, von der Brühe, welche die Nazis Suppe nennen. Den Menschen, die vor Verzweiflung in den elektrischen Stacheldraht rennen. Aber vielleicht hätte sie nicht einmal ihrer Puppe davon erzählen können, was sie in Auschwitz sehen und erleben musste.
Mit den Kerzen in der Hand stehen die Überlebenden und ihre Angehörigen vor dem ehemaligen Krematorium. Ein Vertreter der Organisation, die diese Reise für die Überlebenden organisiert hat, stellt sich vor die Gruppe. Er sei nie in Auschwitz gewesen, sagt er. Obwohl er nun hier stehe. Nie werde er wissen, wie es ist, hier gewesen zu sein. Es seien einzig die Überlebenden, die den Horror erlebten, das Leiden, den Schmerz. Nur sie verstünden, was es bedeute, hier gewesen zu sein. Gabor Hirsch hört zu. Manchmal schliesst er die Augen etwas länger als nur für ein Blinzeln. Es war hier auf diesem Gelände, wo er einmal bereits nackt im Vorraum der Gaskammer stand. SS-Soldaten kamen hinein, liessen die Menschen Liegestützen machen. 51 nahmen sie wieder mit hinaus. 51, die noch genug stark waren, um zu arbeiten – darunter er, Gabor Hirsch. Es war hier, wo er seine Mutter zum letzten Mal sah, getrennt durch einen Stacheldraht. Er hatte sein Brot dabei, um es ihr zu geben, sie hatte ihr Brot dabei, um es ihm zu geben. Sie gab ihm das Brot. Es war hier, wo er sieben Monate überlebte und vor genau 75 Jahren befreit wurde. 15 Jahre alt war er, 27 Kilo schwer. Er konnte kaum noch gehen.
Der Überlebende warnt
Mathias zündet die Kerzen an, geht nach vorne und legt sie auf den aufgewühlten Boden. Gabor Hirsch schaut schweigend zu. Bei einem langem Gespräch in seinem Zuhause in Esslingen ZH Anfang Jahr sagte er: «Ich möchte die Leute warnen, damit sie sich schützen vor Indoktrination – vor starkem Nationalismus und jeder Art von Ausgrenzung. Die Leute lassen sich beeinflussen von Populisten, folgen ihnen wie eine Herde. Das ist das Schlimme. Dass sie sogar denken, dass sie Gutes tun, wenn sie Andersdenkende oder Andersgläubige verfolgen.» Deshalb gebe er Interviews, rede über das, was ihm widerfahren ist, vor Schulklassen. Um ihnen zu bezeugen, was passierte. Denn es könne wieder geschehen.
27. Januar 2020, Auschwitz. Nina Weil (88) steht vor Baracken und Stacheldraht. Keine Puppe im Arm, aber einen Strauss Tulpen. Sie ist mit Simonetta Sommaruga angereist. Gemeinsam gehen sie an die Gedenkfeier, zu der rund 200 Überlebende und viele hochrangige Politiker geladen sind. Doch zuvor wird die Bundespräsidentin durch das Lager geführt, wird einen Kranz niederlegen. Nina Weil kann sich währenddessen im Direktionsgebäude aufwärmen. Doch sie verlässt das warme Gebäude, geht zur Asche der Menschen, die in einem der Räume aufbewahrt wird. Auf dem Weg zurück begegnet sie dem deutschen Bundespräsidenten und seiner Delegation. Ein schwieriger Moment, gesteht sie. Am Abend wird Nina Weil wieder zu Hause sein, in der Schweiz. Bei ihrem Mann. Kinder wollte sie nicht. Weil sie die Grausamkeiten nie vergessen konnte, nie vergass, wie sie damals von den Nazis angeschrien wurde – «niemand sollte Kinder von mir je so anschreien können».