Blick: Der Star-Philosoph Richard David Precht hat in seinem Podcast gesagt, die Religion würde es orthodoxen Juden verbieten, zu arbeiten, bis auf «ein paar Sachen wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte». Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie das gehört haben?
Erik Petry: Ich finde diese Aussage entsetzlich.
Was ist falsch an ihr?
Im Judentum sind keine Berufe «verboten» oder nur bestimmte erlaubt. Und es gibt ein weiteres Problem mit dieser Behauptung.
Erik Petry (62) forscht und lehrt am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel, dessen stellvertretender Leiter er ist. Er ist Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte und befasst sich schwerpunktmässig mit der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Deutschland und der Schweiz in der Neuzeit, mit Zionismus und der Geschichte des Antisemitismus, ebenso wie der Geschichte des Nahen Ostens und Oral History. 2019 wurde er von der Universität Basel mit dem «Teaching Excellence Award für Modern Scholarship» ausgezeichnet.
Erik Petry (62) forscht und lehrt am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel, dessen stellvertretender Leiter er ist. Er ist Professor für Neuere Allgemeine und Jüdische Geschichte und befasst sich schwerpunktmässig mit der Geschichte der Jüdinnen und Juden in Deutschland und der Schweiz in der Neuzeit, mit Zionismus und der Geschichte des Antisemitismus, ebenso wie der Geschichte des Nahen Ostens und Oral History. 2019 wurde er von der Universität Basel mit dem «Teaching Excellence Award für Modern Scholarship» ausgezeichnet.
Nämlich?
Sie bedient falsche Bilder über Jüdinnen und Juden, die aus dem Mittelalter stammen und sich bis heute halten.
Sie spielen auf das jahrtausendealte Vorurteil und die Verschwörungserzählung über das «globale Finanzjudentum» an. Woher rührt das?
Im Westeuropa wurden Jüdinnen und Juden im 13. Jahrhundert von bestimmten Berufen ausgeschlossen. Nebst wenigen anderen Bereichen durften sie nur noch im Kleinhandel tätig sein und Zinsen nehmen. Letzteres war Christinnen und Christen damals untersagt. Jüdinnen und Juden wurden somit gezwungen, in bestimmten Berufen zu arbeiten. Und bald hiess es: Geld und Judentum, das passt zusammen. Dieses Bild also, dass Jüdinnen und Juden Finanzgeschäfte kontrollieren würden, hält sich bis heute. Und es ist klar antisemitisch.
Was bewegt jemanden wie Herrn Precht dazu, so etwas zu sagen?
Unwissen über diese Stereotype ist sicher ein Faktor. Gerade dieser Fall zeigt: Antisemitische Diskurse ziehen sich durch sämtliche Gesellschaftsschichten, auch durch vermeintlich gebildete. Mir scheint es fast so, als ob man in der Gesellschaft gar nicht verstehen will, was diese Bilder auslösen und woher sie kommen.
Mit welcher Konsequenz?
Diese Zuschreibungen sind weit mehr als eine Beleidigung. Sie gehen einen Schritt weiter. Sie schliessen Leute aus der Gesellschaft aus, weil sie vermitteln: ihr seid anders, ihr gehört nicht dazu. Und der nächste Schritt ist schnell getan: Juden gehören nicht nach Europa. Ich unterstelle den Podcastern nicht, dass sie dies haben transportieren wollen. Aber man muss sich bewusst sein, wie weitreichend solche Aussagen sein können.
Was bedeuten solche Äusserungen für Jüdinnen und Juden?
Immer und immer wieder mit Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert zu sein, ist belastend und erdrückend. Von jungen Jüdinnen und Juden höre ich oft, dass sie sich fragen, was sie noch dazu sagen sollen: «Etwa, dass meine Eltern was anderes als auf der Bank arbeiten? Was mache ich hier in dieser Gesellschaft?»
Wie kann man auf antisemitische Äusserungen reagieren?
Wenn man sie in einem Podcast hört, kann man der Plattform schreiben. Hört man etwas direkt, kann man die Person direkt darauf ansprechen. Medien können Vorfälle thematisieren. Wir am Zentrum für Jüdische Studien an der Universität Basel analysieren antisemitische Äusserungen und Bilder, benennen Antisemitismus und ordnen ihn ein.
Gibt es ein Rezept gegen Antisemitismus?
Wenn ich eins hätte, würden wir heute nicht zusammen sprechen. Im Ernst: Es geht nur darüber, die Leute aufzuklären und ihnen Wissen zu vermitteln. Das muss schon in der Schule anfangen. Es gibt zum Beispiel das Aufklärungs- und Dialogprojekt Likrat, im Rahmen dessen jüdische Jugendliche Schulklassen besuchen. Bei diesen Besuchen sprechen Gleichaltrige zusammen – was bedeutet es, jüdisch zu sein? Welche Formen gibt es, den Glauben zu praktizieren? Für viele Schülerinnen und Schüler ist es das erste Mal, dass sie Jüdinnen und Juden persönlich begegnen.
Weitere Rezepte?
Die Rassismus-Strafnorm ist wichtig. Wenn Grenzen überschritten werden, muss die Justiz eingreifen. Und drittens fände ich es wichtig, dass Nazi-Symbole verboten werden. Auch das wäre ein Statement von Staates wegen: Wir dulden das nicht.