Der Winter war hart, aber jetzt ist Sommer. Am Hafen in Oslo ist jeder Stuhl unter den Ulmen besetzt, die Norwegerinnen und Norweger trinken Øl und essen frische Crevetten aus dem Fjord.
Christoffer Andvig (43) will weg. Am liebsten in die Deutschschweiz. Er sitzt in einem Café gleich neben seinem Büro, trägt ein hellblaues Hemd von Ralph Lauren. «Die Schweiz hat viel von dem, was wir hier auch haben», sagt der Gründer des Finanztech-Start-ups Neonomics. Einen hohen Lebensstandard, funktionierende Infrastruktur, eine ähnliche Kultur. «Ausserdem fahre ich leidenschaftlich gern Ski.» Andvig lächelt.
Wären da nicht seine Kinder und seine Verlobte, hätte Andvig seine Heimat längst verlassen. «Die Lage für Start-ups ist in Norwegen katastrophal», klagt er. Innerhalb von zwei Jahren hat die sozialdemokratische Regierung die Steuern gleich zwei Mal erhöht. «Wenn sich in Norwegen nicht sehr bald etwas ändert, muss ich gehen.»
Von Oslo nach Wollerau
Am Himmel lachen die Möwen, vom Badesteg im Hafen springen Kinder kopfüber ins Meer. Leise Wellen schwappen gegen die Segelboote. Eine Welle hat diesen Sommer das ganze Land aufgewühlt: die «Sveits-bølge». Die Schweizer Welle, über die norwegische Zeitungen beinahe täglich berichten – und die das Land spaltet zwischen links und rechts, superreich und finanzschwach, von Oslo bis nach Hammerfest, im obersten Norden.
Immer mehr Norwegerinnen und Norweger ziehen in die Schweiz, um Steuern zu sparen. Wie Ölmagnat Kjell Inge Røkke (64), einer der Reichsten des Landes. Seit letztem Herbst wohnt er in Lugano TI. Unternehmerin und Milliardärin Caroline Marie Hagen Kjos (39) zog nach Wollerau SZ, Skistar Bjørn Dæhlie (56) nach Zug. Zahlreiche sind ihnen gefolgt. Die Welle bricht nicht.
Vom armen Fischerstaat zum zweitreichsten Land der Welt
Aus der Luft sieht Norwegen aus wie eine wildere Schweiz: Da ist dichter Wald, aber endlos. Da ist Wind, aber peitschender und salzig. Da sind keine Alpen, dafür Tausende mächtige Fjorde, von den Gletschern der Eiszeit in die zerklüfteten Küsten gewalzt. Rau und verwunschen.
Knapp 3,3 Millionen weniger Menschen leben in dem riesigen Land, das zehnmal so gross ist wie die Schweiz. 2022 galt Norwegen als zweitreichster Staat der Welt. Die Schweiz belegte den vierten Platz. Es war das Erdöl, das 1969 vor der Küste gefunden wurde und das Land aus der Armut an die absolute Wohlstands-Weltspitze katapultierte. Und viele Norweger sehr, sehr reich machte.
In den Medien ist deshalb nun von «unrühmlichen Verrätern» die Rede. Von Steuerflüchtlingen, die im norwegischen Wohlfahrtsstaat zu Reichtum kamen und sich jetzt vom Acker machen. In der Kritik steht aber auch die Regierung, die den Wegzug mit der Steuererhöhung provoziert hat und jetzt nicht von ihrem Kurs abrückt. Im Gegenteil. Das Parlament droht sogar mit einer Wegzugssteuer, die die Abwanderung jedoch nur zu beschleunigen scheint. Kurz: Ganz Norwegen spricht derzeit über die Schweiz.
60 Prozent erwägen, zu gehen
Das Schiffshorn schallt über den Fjord. Balder Belsvik (25) und Erlend Ramberg (25) sitzen am Pier, an dem die Fähren ablegen. «Das hätten wir so nie erwartet», sagt Belsvik über die Ergebnisse ihrer Masterarbeit. In ihrem Wirtschaftsstudium an einer Handelshochschule in Bergen haben sie die ersten umfassenden Daten zur Schweizer Welle gesammelt. Und herausgefunden: Norwegen hat ein Emigrationsproblem.
Für die Studie haben die beiden mit rund 150 der Wohlhabendsten des Landes gesprochen. Die Bilanz: 60 Prozent erwägen, zu gehen. Die meisten in die Schweiz. «Ausserdem schätzt die Mehrheit der befragten Steuerberaterinnen, dass die Welle in den nächsten zwei Jahren noch grösser wird», sagt Ramberg und blickt auf die ablegenden Fähren.
Nur noch eine Handvoll europäischer Länder erhebt derzeit eine Vermögenssteuer, darunter Norwegen und die Schweiz. Die Steuer soll sicherstellen, dass es vermögende Menschen nicht umgehen, Steuern zu zahlen, indem sie sich zum Beispiel selber keinen Lohn auszahlen.
In Norwegen schlägt die Steuer deutlich härter ins Gewicht: So ist der Steuersatz in Nidwalden oder Schwyz bis zu zehnmal niedriger. Doch auch ein Spezialabkommen fördert die Schweizer Welle. Während Norwegerinnen in einem anderen Land bis zu drei Jahre weiter an ihre alte Heimat zahlen müssen, wechselt die Vermögenssteuer bei einer Ansiedlung in die Schweiz am Tag des Umzugs das Land.
Nur noch eine Handvoll europäischer Länder erhebt derzeit eine Vermögenssteuer, darunter Norwegen und die Schweiz. Die Steuer soll sicherstellen, dass es vermögende Menschen nicht umgehen, Steuern zu zahlen, indem sie sich zum Beispiel selber keinen Lohn auszahlen.
In Norwegen schlägt die Steuer deutlich härter ins Gewicht: So ist der Steuersatz in Nidwalden oder Schwyz bis zu zehnmal niedriger. Doch auch ein Spezialabkommen fördert die Schweizer Welle. Während Norwegerinnen in einem anderen Land bis zu drei Jahre weiter an ihre alte Heimat zahlen müssen, wechselt die Vermögenssteuer bei einer Ansiedlung in die Schweiz am Tag des Umzugs das Land.
Mit den Reichen verlassen auch Kapital, Investitionen, Arbeitsplätze und Talent das Land. Denn die Studie zeigt noch einen zweiten Trend: Waren es bisher vor allem ältere Millionäre und Milliardärinnen, wollen nun auch junge Unternehmer gehen.
Der toxische Mix
Mathilde Fasting (58) ist Steuerexpertin des norwegischen Thinktanks Civita. Sie wohnt eigentlich in Oslo, arbeitet aber gerade in Paris. Deshalb erklärt sie das Dilemma via Zoom. «Um die Vermögenssteuer zu bezahlen, greifen Unternehmen oft auf Dividenden zurück.» Dies ist der ausgeschüttete Gewinn eines Unternehmens. Doch seit neustem reicht dieser dafür oft nicht mehr aus.
«Die Steuererhöhung sieht nicht nach viel aus», sagt Fasting. Die Vermögenssteuer wurde von 0,85 auf 1,1 Prozent erhöht, die Dividendensteuer von 31,7 auf 37,8 Prozent. Doch daraus ergebe sich kombiniert, was die Steuerexpertin als «toxischen Mix» bezeichnet: Gerade jüngere Firmengründer mit wenig Angespartem müssen Anteile ihrer Firma verkaufen, um die Vermögenssteuer bezahlen zu können.
Für Start-ups wie dasjenige von Christoffer Andvig ist das kaum eine Option. Anteile einer Firma zu verkaufen, die noch nicht börsenkotiert ist, sei sehr schwierig, sagt Andvig. «Internationale Geldgeber investieren nicht in Unternehmen, nur um die Steuern des Gründers zu bezahlen.» Ausserdem sei ein Start-up in den ersten Jahren überhaupt nicht in der Lage, Dividenden auszuzahlen.
«Ich schaffe zahlreiche Arbeitsplätze»
Im Stadtzentrum hat es angefangen zu regnen. Menschen in Anzügen hasten durch die Strassen, ihre Aktentaschen schützend über die Köpfe gehalten. «Ich arbeite hart, habe mit meiner Firma ein grosses finanzielles Risiko auf mich genommen», sagt Andvig im Café neben seinem Büro. Bei Start-ups ist oft fast das gesamte Vermögen der Gründer ins Unternehmen eingebunden.
Das sogenannte Storting ist das Parlament Norwegens. Nach acht Jahren konservativer Regierung gelangte 2021 mit Ministerpräsident Jonas Gahr Støre (62) die sozialdemokratische Arbeiterpartei mit einer Koalition an die Macht. Seit 1927 ist sie die grösste Fraktion des Landes, dicht gefolgt von der konservativen Partei Høyre (dt. rechts).
Das sogenannte Storting ist das Parlament Norwegens. Nach acht Jahren konservativer Regierung gelangte 2021 mit Ministerpräsident Jonas Gahr Støre (62) die sozialdemokratische Arbeiterpartei mit einer Koalition an die Macht. Seit 1927 ist sie die grösste Fraktion des Landes, dicht gefolgt von der konservativen Partei Høyre (dt. rechts).
2016 gründete er Neonomics. Das Unternehmen hat eine Schnittstelle entwickelt, mit der Banken und Drittanbieter ihre Dienste unkompliziert austauschen können. Also eine Art App-Store für die Bankenwelt. Neonomics expandierte bereits in andere nordische und europäische Länder.
Das norwegische System sei fantastisch, so Andvig – solange man für die Regierung arbeite. «Dabei schaffe ich zahlreiche Arbeitsplätze und trage Millionen Euro zur Gemeinschaft Norwegens bei.»
Norwegen fehle ein Plan für die Zukunft, ist sich der Unternehmer sicher. «Die Regierung sagt, dass sich Norwegen endlich vom Öl und Gas wegbewegen und ein neues Business aufbauen soll.» Auch, dass sie Start-ups und Innovation fördern wollen. «Doch mit der Steuerbürde macht sie genau das Gegenteil.»
Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher
«Lugano, Zypern, Zug», murmelt Sofie Marhaug (33). Die Abgeordnete der linken Regierungspartei Rødt sitzt im Parlament in Oslo und tippt auf ihr Smartphone. Es ist die Liste des norwegischen Wirtschaftsblatts «Kapital», das die vermögendsten Menschen des Landes dokumentiert. Viele von ihnen haben es bereits verlassen.
Marhaug sieht in der Schweizer Welle vor allem eines: ein Druckmittel, mit dem Reiche und Liberale die Steuern wieder senken wollen. «Dabei werden die Steuern von der Gemeinschaft und der Politik gemeinsam festgelegt. Wir sollten uns von den Wegzügen nicht einschüchtern lassen.»
Die letzten Jahre seien hart gewesen, sagt Marhaug – aber nicht für die Reichen. Pandemie, hohe Inflation und horrende Energiekosten hätten die Mittelklasse und Geringverdiener Norwegens hart getroffen. Marhaug sagt: «Wir haben es mit einer neuen Armut zu tun, die wir so seit vielen Jahren nicht gesehen haben.»
Gleichzeitig habe es noch nie so viele Privatflüge wie im Jahr 2022 gegeben. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wachse immer dramatischer. «Unter diesen Umständen finde ich es verwerflich, eine Steuersenkung für Wohlhabende zu diskutieren.»
Die zehn Gebote Skandinaviens
Auf dem Weg nach Fredrikstad im äussersten Südosten Norwegens fliegen Birkenwälder und kaminrote Holzhäuschen am Busfenster vorbei. Von protzigen Prachtbauten keine Spur. Das Land, in dem sich ausser der Königsfamilie alle duzen, stellt seinen Reichtum nicht zur Schau.
Das liegt zu einem grossen Teil am «Janteloven». Einem Verhaltenskodex des Schriftstellers Aksel Sandemose (1899–1965), der sich seit bald hundert Jahren wie ein roter Faden durch die skandinavische Kultur zieht. «Du sollst nicht glauben, dass du besser, klüger, besonderer bist», lauten drei der zehn Gebote, die hier jedes Kind kennt. Kurz: Nimm dich bloss nicht so wichtig.
Frode Jacobsen (54) wartet vor dem Rathaus in Fredrikstad. Das schmucke Städtchen liegt fast an der Grenze zu Schweden. Jacobsen ist Abgeordneter und Mitglied des Finanz- und Wirtschaftskomitees der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Seine Sommerferien verbringt er wie die meisten Landsleute mit der ganzen Familie in einer Hytte, einem Ferienhäuschen.
Weniger Steuern für Geringverdiener und Mittelklasse
«Das haben wir alles schon so oft gehört», wiegelt er die Kritik an den hohen Steuern Norwegens ab. «Klar, es gab in letzter Zeit einige Änderungen im Steuergesetz. Doch nun müssen wir abwägen: Was ist an den Vorwürfen tatsächlich dran, und womit sollen bloss niedrigere Steuern erwirkt werden?»
Das Sozialsystem in Norwegen sei sehr gut, der Staat unterstütze seine Bürgerinnen und Bürger. Deshalb sei es in Norwegen einfach, Geld zu verdienen und Erfolg zu haben. «Es ist nur fair, dem Staat etwas zurückzugeben.»
Indem die Steuern für Wohlhabende erhöht wurden, konnte sie für die Mittelklasse und Geringverdiener gesenkt werden. Jacobsen ist sich sicher: «Wem es in Norwegen gut geht, der hat auch nach den Steuern noch mehr als genug.»
«Auch heute ist Norwegen für Unternehmen attraktiv»
Jacobsen zeigt ein Foto auf seinem Smartphone: der Umzug vom 17. Mai, dem Tag, an dem Norwegen seine Unabhängigkeit von Dänemark und Schweden feiert. Am Volksfest schwingt das ganze Land norwegische Flaggen und trägt Bunad, die Tracht, die hier viele zu besonderen Anlässen hervorholen.
Highlight des Tages ist der Kinderumzug, der am örtlichen Grand Hotel vorbeizieht. Von den Balkonen winken die Reichen – einige sind eigens aus dem Ausland angereist. «Dieses Jahr waren viele darunter, die in die Schweiz gezogen sind», weiss Jacobsen. Für ihn ein klares Zeichen, dass sie ihre Heimat vermissen.
Wie attraktiv Norwegen für Gründerinnen und Investoren immer noch ist, misst Jacobsen am vergangenen Jahr: Rund 150’000 Stellen wurden geschaffen, 100’000 davon im Privatsektor. «Das zeigt mir, dass es auch heute gut möglich und attraktiv ist, hier ein Unternehmen zu gründen.»
Steuerexpertin Mathilde Fasting kontert: Viele dieser Stellen seien im Öl- und Gassektor geschaffen worden. Auch das Hoch nach der Pandemie spiele der Regierung in die Karten: «Sobald es abflacht, sieht die Lage vermutlich nicht mehr so gut aus.»
IMAGE-ERROR (inline_Image_4732054562654864759)Dass die Schweizer Welle den norwegischen Wohlstand gefährdet, glaubt sie hingegen nicht. Doch der Ruf ihres Landes stehe auf dem Spiel. Sie sagt: «Wer weiss, was das die nächsten Jahre ins Rollen bringt.»
Eine schwierige Entscheidung
In Oslo nimmt Start-up-Gründer Andvig den letzten Schluck Kaffee. Er wird Norwegen vermissen. Die Fjorde, das Meer, die offenen Menschen. «Es ist ein sehr grosser Schritt, besonders wegen meiner Kinder.» Er weiss: Wenn er mit seiner Familie in die Schweiz zieht, wird er so bald nicht nach Norwegen zurückkehren.
Weit nach Mitternacht leuchtet der Himmel über der Hauptstadt zartrosa. Der Winter im Norden war hart, aber jetzt ist Sommer. In den sogenannten «weissen Nächten» wird jede Minute Tageslicht ausgekostet. So lange, bis es in Norwegen wieder dunkel wird.