Historikerin Lina Gafner
«Ein Frauenstreik politisiert eine Generation»

Am feministischen Streik gehen am 14. Juni schweizweit Tausende Frauen und Zugewandte auf die Strasse. Historikerin Lina Gafner (40), die Co-Direktorin vom Gosteli-Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, über die Bedeutung von Frauenstreiks.
Publiziert: 13.06.2023 um 16:33 Uhr
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Lina Gafner ist Co-Direktorin der Gosteli-Stiftung, dem Archiv zur Geschichte der Schweizerischen Frauenbewegung.
Foto: Adrian Moser
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Blick: Welche Errungenschaften der schweizerischen Frauenbewegung finden Sie besonders eindrücklich?
Lina Gafner: Die Frauenstreiks stechen für mich heraus mit ihrer Mobilisierungskraft und Grösse. Sie führen Stimmungsveränderungen herbei. Die Frauen merken: ich bin nicht alleine mit meiner Sichtweise, meiner Wut, meinen Forderungen.

Was bringt diese Erkenntnis?
Jeder Streik verleiht der Frauenbewegung Schub.

Wie konkret?
Als Folge des Streiks von 1991 wuchs der politische Druck in verschiedenen Bereichen. Die Wahl von Ruth Dreifuss in den Bundesrat veränderte die Konstellation in der Regierung. 1996 trat das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann in Kraft. Zu den Forderungen des Streiks gehörten auch die Verbesserung der Altersrenten der Frauen und die Anerkennung der Sorgearbeit in der AHV. In der Parlamentsdebatte zur AHV-Revision 1993 setzte sich ein geschlossenes Frauenbündnis gegen alle Widerstände durch.

Und der Streik von 2019?
Noch nie wurden so viele Frauen in den National- und den Ständerat gewählt wie bei den Wahlen 2019. Dann gab es gerade kürzlich eine grosse Neuerung im Sexualstrafrecht: Nein ist Nein. Seit 2019 wird viel mehr darüber geredet, welchen Wert Sorgearbeit hat. Und was man weiter feststellen kann: Ein Frauenstreik politisiert eine Generation, er ist ein prägendes Erlebnis.

Braucht es noch feministische Streiks?
Viele Menschen denken, die Gleichstellung sei erreicht. Aber in so vielen Bereichen erfahren Frauen noch immer riesige Nachteile. So verdienen die Frauen in der Schweiz jährlich insgesamt 100 Milliarden Franken weniger als die Männer, obwohl sie gleich viele Stunden arbeiten. Und das ist nur ein Beispiel.

Das Gosteli-Archiv zeigt mit dem Projekt #zusammenfrauen, wie Frauen gemeinsam für Frauenrechte kämpfen. Erzählen Sie bitte ein Beispiel, das überrascht.
1975 war das UNO-Jahr der Frau. In Bern gab es einen Frauenkongress, zu dem die älteren Frauenorganisationen geladen hatten. Die neue Frauenbewegung störte sich daran, dass das Recht auf Abtreibung nicht auf der Agenda des Kongresses stand. Sie platzten in die Veranstaltung und forderten einen Dialog. Schliesslich wurde das Recht auf Abtreibung im Kongressmanifest aufgenommen. Die beiden Bewegungen hatten unterschiedliche Strategien, fanden aber doch zueinander.

Das Überparteiliche war der Namensgeberin Ihrer Stiftung wichtig, Frauenrechtlerin Marthe Gosteli, die 2017 starb.
Dies wollen wir als Stiftung auch weiter pflegen. Unsere Bestände bilden die ganze politische Breite der Bewegung ab. Und bei der Arbeit an #zusammenfrauen zeigte sich, dass gerade aus der Vielfalt der Frauenbewegung eine grosse Kraft erwachsen kann.

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