Es sind bewegte Tage für die Frauen im Land. An der Frühjahrssession wird derzeit über wegweisende gleichstellungspolitische Anliegen debattiert. Gestern formulierten 250 Aktivistinnen aus der Schweiz im Rahmen eines Vernetzungstreffens in Freiburg ihre Forderungen für den feministischen Streik am 14. Juni. Und kommenden Mittwoch ist Tag der Frau. Der perfekte Zeitpunkt also, um die wohl bekannteste Feministin im Land zum Gespräch zu bitten.
SonntagsBlick: Der Nationalrat hat sich soeben für günstigere Kita-Plätze ausgesprochen. Das freut Sie sicher.
Tamara Funiciello: Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings hat der Ständerat schon angekündigt, dass er die Vorlage zusammenkürzen will. Das ist frech. Man muss sich bewusst sein, dass diese Arbeit auch heute schon nicht gratis ist. Aktuell zahlt aber nicht die öffentliche Hand dafür, sondern allen voran die Frauen, die für die Betreuung der Kinder ihre Arbeitspensen reduzieren und deswegen tiefere Löhne und Renten bekommen. Und auch wenn die Kita-Vorlage durchkommt, gibt es noch viel zu tun im Bereich der Kinderbetreuung: Wir müssen auch über Arbeitsbedingungen und Löhne sprechen.
2019 wurden so viele Frauen wie noch nie ins Parlament gewählt. Haben gleichstellungspolitische Anliegen seither bessere Chancen?
Was geschlechterspezifische Gewalt angeht, haben wir sicher Fortschritte gemacht. Auch was LGBTQ-Anliegen angeht, sei es mit der Ehe für alle oder dem Diskriminierungsschutz. Und ich bin zuversichtlich, dass wir kommende Woche auch im Bereich des Sexualstrafrechts Fortschritte machen werden. Dort konnte ich einen Wandel im Parlament beobachten. Mittlerweile wissen hier drin viele, dass in der Schweiz 430'000 Frauen vergewaltigt wurden. Es ist zentral, dass wir in diesem Bereich etwas ändern. Das hat mir auch eine Begegnung gezeigt, die ich diese Woche mit einer jungen Frau hatte.
Was ist passiert?
Auf dem Heimweg kam mir eine 16-Jährige entgegen. Sie war völlig aufgelöst, hat geweint und gezittert. Irgendein Typ hatte sie gerade belästigt, als sie an der Aare sass und lernen wollte. Ich habe sie dann aufs Tram begleitet. Wegen des Erlebten hatte sie eine Panikattacke und konnte eine wichtige Prüfung nicht schreiben. Solche Sachen machen mich fertig. Und dann sagt man mir, ich solle nicht so wütend sein. Ich frage mich: Warum seid ihr nicht wütend über solche Dinge? Warum unternehmen wir nicht alles, was nötig ist, um das zu verhindern? Es braucht Geld, Ressourcen, politischen Willen! Und auch in anderen Bereichen gibt es noch viel zu tun ...
Nämlich?
Gerade was die Löhne und Renten von Frauen angeht, ist dieses Parlament gescheitert. Da hätte ich mir mehr erhofft. Von der aktuellen Gleichstellungspolitik profitieren vor allem gut situierte Frauen – nicht aber die Kassierinnen, Pflegerinnen und Kinderbetreuerinnen.
Trotzdem: Den Frauen in diesem Land geht es heute wohl so gut wie noch nie. Sind Sie nicht zu fordernd?
Frauen leisten jedes Jahr unbezahlte Care-Arbeit im Wert von 248 Milliarden Franken. Sie verdienen 43 Prozent weniger als Männer, obwohl sie stundenmässig gleich viel arbeiten. Seit 2015 wird die Lohnungleichheit sogar grösser. Und aktuell haben wir zwei Initiativen auf dem Tisch, die das Recht auf Abtreibung einschränken wollen. Also nein, wir Frauen sind nicht zu fordernd. Gleichstellung ist unser Recht. Wir fordern nur ein, was uns von Gesetzes wegen zusteht.
Manche kritisieren, Frauen sollten aus ihrer Opferrolle herauskommen.
Mir soll mal jemand erklären, was damit gemeint ist. Dass wir schweigen und die Diskriminierung hinnehmen sollen? Das akzeptiere ich nicht.
Männer haben doch auch Probleme!
Absolut! Ich setze mich ja auch dafür ein, dass es Männern besser geht. Dass sie die Möglichkeit auf Teilzeitarbeit haben. Oder dass das Rentenalter nicht erhöht wird, sei es für Frauen oder Männer. Ich bin also absolut solidarisch. Und ich lade die Männer in diesem Land ein, eine emanzipatorische Männerbewegung zu lancieren. Ich würde mit Freude ihre Fahne tragen. Aber projiziert eure Unzufriedenheit nicht auf die Frauen – sagt ihnen nicht, sie sollen aufhören, sich zu wehren, nur weil ihr auch Probleme habt. Das ist doch keine Lösung.
Apropos sich wehren: Was erwarten Sie vom Frauenstreik?
2019 haben wir bewiesen, dass Bewegung ins Parlament kommen kann, wenn Druck von aussen da ist. Jetzt müssen wir zeigen, dass wir nicht wieder weggehen. Wir sind viele, wir sind da und setzen uns ein für Zeit, Geld und Respekt, für unsere Körper, unsere Arbeit, unsere Kinder.
Erhoffen Sie sich durch den Streik erneut eine Frauenwahl?
Ich hoffe nicht, ich kämpfe. Dafür, dass es genug Frauen hat, repräsentativ und in allen Parteien. Und ich setze mich dafür ein, dass jene gewählt werden, die sich für höhere Löhne und Renten, tiefere Arbeitszeiten, mehr und günstigere Kita-Plätze und Schutz vor Gewalt einsetzen.