Die Frauen gehen auf die Strasse. Die SP ruft nach dem hauchdünnen Ja von 50,6 Prozent zur Erhöhung des Frauenrentenalters für Montag zu einer Protestaktion in Bern auf. Denn am Sonntag haben die Männer bestimmt, dass die Frauen ein Jahr länger arbeiten sollen.
Laut Politologe Claude Longchamp (65), der am Abstimmungssonntag die Ergebnisse auf Blick TV einordnete, lässt der knappe Ausgang darauf schliessen, dass die Frauen der AHV-Vorlage bloss zu 40 Prozent zugestimmt, die Männer dieser aber mit etwa 60 Prozent Ja-Stimmen zum Durchbruch verholfen haben. Wohl ein Rekord – nie wird die Differenz beim Abstimmungsverhalten so gross gewesen sein wie bei diesem Urnengang. Darauf deutet auch eine Nachwahlbefragung im Auftrag des «Tages-Anzeigers» hin. Demnach haben 65 Prozent der Männer Ja zur Reform gesagt, aber nur 37 Prozent der Frauen.
«Frauen müssen nicht ins Militär»
Natürlich war es am Sonntag nicht das erste Mal, dass eine männliche Mehrheit die Bürgerinnen überstimmte. Aber wenn Männer die Frauen gegen deren Willen dazu verdonnern, erst später in Rente gehen zu dürfen, hat dies eine neue Qualität.
Das grosse Echo, das der Frauenstreik im Juni 2019 ausgelöst hatte, die Medienberichte zu den Lohnunterschieden zwischen den Geschlechtern und die Absichtserklärungen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu fördern, könnten die Haltung, die Frauen hätten ja schon viel bekommen und müssten endlich auch mal etwas geben, genauso befördert haben wie das bürgerliche Argument, dass «die Frauen länger leben und nicht ins Militär müssen», so Longchamp.
Einer Mehrheit der Frauen reicht es nicht
Das Stimmverhalten zeigt, dass aus Sicht der Mehrheit der Frauen längst nicht genug passiert ist, um das Pensionsalter auszugleichen. So verfängt bei ihnen der Hinweis der Sozialdemokraten, die Frauen bekämen ein Drittel weniger Rente als Männer und jede zehnte Frau sei nach ihrer Pensionierung auf Ergänzungsleistungen angewiesen.
Hätten 58 statt knapp über 50 Prozent der Stimmenden dem höheren Frauenrentenalter zugestimmt, wäre der für Montag angesagte Protest weniger verstanden worden. Mit dem Fotofinish vom Sonntag sieht die Sache anders aus.
Bei der Elefantenrunde auf Blick TV, in der die Präsidenten der bürgerlichen Bundesratsparteien und SP-Chefin Mattea Meyer (34) die Klingen kreuzten, zeichnete sich der knappe Sieg der Befürworter zwar ab, fest stand er aber noch nicht. Doch alle wussten: Es wird eng. So signalisierten die bürgerlichen Parteichefs, man wolle nun den Frauen bei der Reform der zweiten Säule (BVG) entgegenkommen. Meyer hegt daran noch Zweifel.
Auswirkungen auf kommende Initiativen
Der knappe Ausgang der AHV-Abstimmung, das klare Nein der Frauen und der Umstand, dass die Vorlage in der Romandie und im Tessin hochkant gescheitert ist – das alles wirft Schatten auf kommende AHV-Abstimmungen: Sie werden für die bürgerlichen Parteien und ihre Verbände kein Spaziergang.
So dürfte die Initiative zur Schaffung einer 13. AHV-Rente der Gewerkschaften wohl Auftrieb erhalten. Und sollte das Parlament bei der BVG-Revision hinter ihren Versprechungen zurückbleiben, erhöht das die Chancen noch weiter.
Einen Dämpfer erhalten haben auch die Jungfreisinnigen. Ihre Pläne, das Rentenalter von Frauen und Männern auf 66 Jahre zu erhöhen und das Pensionsalter mit wachsender Lebenserwartung weiter zu steigern, scheint derzeit chancenlos.
Nur ausgewogene Vorlagen
Der Präsident der Mitte-Partei, Gerhard Pfister (59), betonte am Abstimmungssonntag mehrfach, dass nur ausgewogene Vorlagen eine Chance hätten. Fehlt bei einer Rentenvorlage der Ausgleich, ist der Absturz vorprogrammiert – seit Sonntag sowieso.
Schon jetzt sagt Politologe Longchamp: «Hätten die Gegner mit der Schlusskampagne zwei Wochen früher angefangen, hätte die AHV-Reform am Frauenrentenalter scheitern können.» Diesmal ist es für die Bürgerlichen gerade noch einmal gut gegangen.
Dass es endlich gelungen ist, eine AHV-Reform durchzubringen, ist für diese ein wichtiger Erfolg. Aber gleichzeitig ist mit dem höheren Frauenrentenalter und den zusätzlichen Mehrwertsteuerprozenten für die AHV der grösste Reformdruck weg. Die Finanzierung der ersten Säule ist für die nächsten Jahre gesichert. Das Argument, die AHV brauche unbedingt Geld, zieht vorerst nicht mehr.