Der Schweizer Jazz ist ein Wintergewächs. Wie bitte? Jazz kommt aus New Orleans, der swingenden Stadt im subtropischen Louisiana. Jazz ist heiss, hot! Und wenn er mit Schnee verbunden wird, dann höchstens mit den Drogen, die einige Musiker zu konsumieren pflegten.
Doch als der Jazz vor rund 100 Jahren in unser Land kam, importiert von amerikanischen Soldaten, die im Ersten Weltkrieg nicht nur ihre Waffen, sondern auch ihre Kultur mitbrachten, liess er sich zuerst in den mondänen Winterkurorten nieder.
Von Arosa bis St. Moritz erwachte nach der Zwangspause im Krieg der Tourismus zu neuem Leben. Die internationale Klientel wünschte, bei Laune gehalten zu werden. Dazu gehörten der Thé dansant am Nachmittag und der rauschende Ball am Abend. Und dazu gehörte der Jazz. Weder die Hoteliers noch ihre Salonorchester hatten eine Wahl: Sie mussten die neue Musik der Afroamerikaner mit ihren Synkopen übernehmen.
Einfach zu lösen war diese Aufgabe nicht. «Ich glaube, es ist heute völlig unvorstellbar, dass man an eine Musik gerät, die so wahnsinnig fremd ist, wie wir das seinerzeit erlebt haben», erinnerte sich später der Pianist Ernest Berner (1904–1966), der ein wichtiger Förderer des Jazz in der Schweiz war.
Donnerblech und Schreckschusspistolen
Zum Jazz gehörte das Schlagzeug, das bisher nicht die erste Geige gespielt hatte. Die Liaison war so eng, dass das Schlagzeug im Schweizer Volksmund «Jazz» genannt wurde und der Schlagzeuger ein «Jazzer» war. Bisher hatten die Drummer in den Stummfilmvertonungen für die Geräuschkulisse gesorgt. Ihr Arsenal reichte vom Donnerblech bis zur Schreckschusspistole. Doch nun protzten immer mehr Kapellen mit einer riesigen Basstrommel, auf die sie ihr Logo malten.
Jazz war in den ersten Jahrzehnten vor allem eins: Tanzmusik. Weil die Menschen nach den Erfahrungen des Kriegs und später während der Wirtschaftskrise ihre Sorgen abschütteln wollten, blühte das Nachtleben in den Dancings auf, die Namen wie Chikito, Fantasio oder Walhalla trugen. Die Tanzwut grassierte, und die Tanzschulen boten Crash-Kurse in Gliederverrenkung.
Für die Musiker waren das gute Nachrichten. Denn getanzt wurde damals noch ausschliesslich zu Livemusik. So boomten die Jazzbands überall. Viele Schweizer Musik-Saisonniers arbeiteten auch im Ausland in internationalen Orchestern. Dort waren sie wegen ihres Könnens und ihres Fleisses gefragt.
Der erste Schweizer Popstar
Die 30er- und 40er-Jahre wurden zur Blütezeit des Swing und der Big Bands. Teddy Stauffer (1909–1991) war der Schweizer Swing-König. Der Berner Saxofonist und Geiger war kein besonders guter Musiker. Doch er vereinigte Abenteuerlust und Organisationstalent in sich.
1929 gingen Stauffer und seine Original Teddies nach Berlin. Nach einem harzigen Start arbeiteten sie sich zum wohl erfolgreichsten Orchester in Nazideutschland hoch. Dabei halfen Stauffers blonder Filmstarlook und seine Beziehungspflege. Mit den Nazis hatte Teddy nichts am Hut.
Doch im Dritten Reich, das die «Hottentotten-Musik» auf den Index gesetzt hatte, brauchte es Kompromisse, um mit einer Swingband überleben zu können. So spielte Stauffer mit seinen Teddies an einem Privatball von Reichsmarschall Hermann Göring.
Gleichzeitig war er ein Idol der «Swing Heinis», die mit ihrem Dandy-Look und ihrer Begeisterung für Amerika Widerstand gegen das Regime leisteten. Ohne Zweifel: Teddy Stauffer war der erste Schweizer Popstar, eine schillernde, ambivalente Figur.
Samuel Mumenthalers Buch «Hot! Jazz als frühe Popkultur» ist eine kritische Hommage an die Tanzorchester, die den Jazz in der Schweiz populär machten. Es erzählt die faszinierenden Geschichten der Jazzpionierinnen und -pioniere, die auch Vorläufer der heutigen Popmusik waren.
Samuel Mumenthaler, «Hot! Jazz als frühe Popkultur», Zytglogge Verlag.
Samuel Mumenthalers Buch «Hot! Jazz als frühe Popkultur» ist eine kritische Hommage an die Tanzorchester, die den Jazz in der Schweiz populär machten. Es erzählt die faszinierenden Geschichten der Jazzpionierinnen und -pioniere, die auch Vorläufer der heutigen Popmusik waren.
Samuel Mumenthaler, «Hot! Jazz als frühe Popkultur», Zytglogge Verlag.
Von der Landi nach Acapulco
Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, spielte Teddy Stauffer an der Schweizerischen Landesausstellung. Mit seinem Landi-Swing und dem Mundartschlager «S’Margritli» wurde er zum Aushängeschild der geistigen Landesverteidigung. In diesen harten Jahren war Teddy eine der beliebtesten Persönlichkeiten in der eingeschlossenen Schweiz.
Die Schweizer Luxushotels in den Alpen blieben das beliebteste Auftrittsziel der Musiker, trotz knallharter Bedingungen. Ein Arbeitstag dauerte bis zu zwölf Stunden und das sieben Tage die Woche. Kontakte zu den Gästen waren den Musikern untersagt, sie betraten das Lokal durch den Bediensteteneingang. Doch tagsüber lockten Wintersonne und Schnee.
Viele Jazzmusiker waren ausgezeichnete Skifahrer und Schlittschuhläufer. Mit wenig Schlaf auf die Piste zu gehen, war allerdings riskant. Teddy Stauffer brach sich in den 1930er-Jahren einmal gleich beide Arme. Seiner Dirigententätigkeit war das nicht förderlich. Dafür musste er während des Weltkriegs nicht in den Aktivdienst einrücken.
Stauffer zog es sowieso in die Ferne. 1941 kaufte er ein Einfachticket in die USA. Aus der erhofften Karriere als Bandleader im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde nichts, dafür bezirzte der Playboy diverse Hollywoodstars und heiratete die skandalumwitterte Hedy Lamarr (Ehefrau Nummer zwei von fünf).
In Acapulco an der mexikanischen Pazifikküste wurde Stauffer zum erfolgreichen Hotelier und Einflüsterer der Reichen und Schönen. Als er 1991 starb, richtete der Gouverneur ein Staatsbegräbnis für «Señor Teddy» aus.
«Alles fahrt Schii»
Zurück in der Schweiz blieben die Hotelsäle in den Bergen bald der letzte Zufluchtsort für die grossen Orchester – auch für dasjenige von Hazy Osterwald (1922–2012), der zum populärsten Bandleader nach Stauffer wurde und wie Teddy ein leidenschaftlicher Fussballfan war.
Im Untergrund der Jazzkeller
Nach dem Krieg hatte es sich ausgewingt. Die schwerfälligen Big Bands starben aus wie die Dinosaurier. Doch das Publikum wollte weitertanzen. So übernahmen kleinere Tanzcombos mit Allerweltsrepertoire. Viele Jugendliche trafen sich stattdessen in illegalen Jazzkellern, wo sie zu traditionellem New-Orleans-Jazz «hotteten» wie wild. Jazzkeller waren die ersten Treffpunkte der Untergrundkultur – die Eltern blieb aussen vor.
Als Mitte der 1950er-Jahre der Rock ’n’ Roll auch in die Schweiz kam, war das Publikum zunächst das gleiche. «Halbstarke», wie man die rebellischen Fans der amerikanischen Popkultur zuerst nannte, mischten auch Jazzanlässe auf. Derweil spielten die grossen Jazzstars aus den USA entweder massentaugliche Musik im Hallenstadion oder modernere, ambitionierte Varianten in den etablierten Konzertsälen.
Als die Musik zunehmend elektrifiziert wurde und die Gitarren an die Verstärker gestöpselt wurden, kamen die Bläser unter Druck. Jazz hatte als Tanzmusik spätestens ausgedient, als die Beatles ab 1963 mit ihrem jugendlichen Enthusiasmus auch die Schweiz im Sturm nahmen. Nun waren Beat und Pop der Sound der Stunde. Die Swiss Beatles boomten, die Bands schossen wie Pilze aus dem Boden. Der Jazz, der phasenweise eine frühe Spielart der Popkultur gewesen war, entwickelte sich zur Kunstmusik weiter und setzte auf Qualität statt Unterhaltung.
Die Technik gibt den Ton an
Dabei legte der Jazz den Grundstein für die Popkultur: Seine Geschichte ist in der Schweiz eng mit dem technologischen Fortschritt verknüpft. Dank dem Aufkommen von Schallplatte und Radio wurde diese Musik rasch populär. Teddy Stauffer war der erste Schweizer Plattenstar. Später kam das Fernsehen als Unterhaltungsmedium hinzu. Hier war es Hazy Osterwald, der schon früh die Zeichen der Zeit erkannte und mit seinen komödiantischen Fernsehshows zu einem Pionier des neuen Mediums wurde.
In den Sixties brach ein neues Popzeitalter an. Ohne die Pionierleistung der jazzigen Tanzorchester wäre es nie so weit gekommen.