Die Geschichte der schweizerisch-tamilischen Sängerin Priya Ragu (37) aus St. Gallen liest sich wie die Ankündigung eines neuen Netflix-Hits: Ihre Eltern flohen in den 1980er-Jahren vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka in die Schweiz. Die musikbegeisterte Tochter wächst im Land von Heidi zwischen zwei Kulturen auf und wird 30 Jahre später zum schillernden Popstar.
Aber von Anfang an: Nachdem Priya Ragus Eltern in die Schweiz gekommen sind, weckt der Vater bei seiner Tochter die Liebe zur Musik. Schon als Siebenjährige spielt sie Geige, als Zehnjährige singt sie an der Seite des Vaters in dessen Band. «Zusammen mit meinem Bruder traten wir an Hochzeiten auf. Zudem trafen wir uns oft mit Leuten aus der lokalen tamilischen Gemeinschaft und sangen gemeinsam traditionelle Lieder», sagt Priya Ragu zu SonntagsBlick. Die Eltern wollten ihre Tochter auf diese Weise mit der alten Heimat verbinden. Das Mädchen, das in der Schweiz aufwächst, soll nicht vergessen, woher es kommt.
Der Traum von der Musikkarriere musste warten
Der Clash dieser beiden unterschiedlichen Kulturen sollte später eines der Hauptthemen des Popstars werden. «Meine Kindheit in St. Gallen war sehr schön», erinnert sich Ragu. «Und doch war ich oft allein unterwegs, hatte nur eine oder zwei beste Freundinnen.» In der Musik blüht Ragu hingegen auf. Hier fühlt sie sich zu Hause. Als sie von einer Karriere als Sängerin träumt, ist ihre Familie aber dagegen. «Meine Eltern sind sehr konservativ. Der Beruf als Musikerin war ihnen viel zu unsicher. Ihr Traum war stattdessen, dass ich früh heirate und irgendwo einen sicheren Job übernehme.»
Also wird Priya Ragu, eigentlich Priya Ragupathylingam, technische Einkäuferin für Flugzeugteile bei der Swiss. «Ein gut bezahlter Job, der mir Spass machte. Aber auch ein Job, den man nicht nebenbei macht und der kaum Raum für ein aufwendiges Hobby wie die Musik lässt», sagt sie rückblickend. Ihren Traum lässt die St. Gallerin trotzdem nicht ganz aus den Augen. Sie singt an verschiedenen Open-Mic-Events und steuert ab und zu Backing Vocals für Lieder von Schweizer Rappern bei.
Ihr Bruder produziert sie zum Erfolg
Doch im Jahr 2017, mit Anfang 30, kann Ragu ihren Traum nicht mehr länger unterdrücken. Sie entscheidet sich dazu, ganz auf die Musik zu setzen. «Ich kündigte meinen Job und zog nach New York. In die Stadt, in der scheinbar alle Träume wahr werden – also hoffentlich auch meiner. Doch erst mal gab ich viel Geld für Schuhe und Kaffee aus», sagt Ragu lachend. In der amerikanischen Metropole, die ein Schmelztiegel für Kulturen aus aller Welt ist, fühlt sich die Sängerin mit ihrem Mix aus Soul, RnB, Asia-Pop und Hindu-Sound wohl. Mithilfe ihres Bruders, dem Produzenten Japhna Gold (41), der sich aus der Schweiz via Skype zuschaltet, arbeitet sie an ihrem ersten Mixtape «Damnshestamil», das zehn eigene Songs umfasst. Bruder Japhna hat die Idee, tamilische Einflüsse in die Lieder einzubeziehen. «Auch wenn ich mich oft mehr als Schweizerin fühle, verbinde ich mich auf diese Weise in meinen Songs wieder mit meinen Wurzeln. Musik ist meine Therapie.»
2020, in dem Jahr, in dem die Welt von einer globalen Pandemie lahmgelegt wird, schafft Priya Ragu mit ihrer in Eigenregie veröffentlichten Single «Good Love 2.0» schliesslich den Durchbruch. Nachdem der britische Sender BBC ihren Song gespielt hat, klopfen über 20 Labels bei ihr an. Auf der Musikplattform Spotify werden ihre Lieder millionenfach gespielt. Sie tritt an Konzerten in England, in den USA und in Indien auf. Die St. Gallerin liefere mit ihrer Musik «Ost-West-Hybrid» vom Feinsten, schwärmt die «New York Times». Der «Guardian» nennt sie eine der wichtigsten Nachwuchskünstlerinnen des Jahres, «Vogue India» setzt sie gar aufs Cover. Priya Ragu unterschreibt schliesslich einen Plattenvertrag beim britischen Ableger von Warner Music. Am 20. Oktober dieses Jahres erscheint ihr lang ersehntes Debütalbum «Santhosam».
Musik verbindet die Schweiz und Sri Lanka
«Manchmal kann ich es selber kaum glauben, dass ich diesen Erfolg habe und meinen Traum leben kann», sagt Ragu, die ihre Musik als Ragu-Wavy-Sound bezeichnet – eine Mischung aus westlichem Rn B und traditioneller tamilischer Musik. «Müsste ich nicht längst verheiratet sein und Kinder haben?», fragt sie, ohne eine Antwort zu erwarten. «Stattdessen bin ich eine Frau in den 30ern und stehe am Anfang meiner Musikkarriere. Das ist schon krass – und wunderbar!»
Das sehen inzwischen auch Priya Ragus Eltern so. «Sie hätten nie gedacht, dass ich das schaffe. Aber jetzt sind sie sehr stolz auf mich. Wir sind oft mit der ganzen Familie im Auto unterwegs und hören zusammen mein Album. Dann singen wir alle zusammen, und es ist wieder so wie in meiner Kindheit, als wir bei den tamilischen Hochzeiten spielten. Der Kreis schliesst sich.»
Kein Zweifel: Von Priya Ragu werden wir in nächster Zeit noch viel hören. Die St. Gallerin ist mit ihrem neuen Album auf grosser Europa- und USA-Tournee. Auch Auftritte in Indien und Sri Lanka sind geplant. «Als Kind habe ich meine tamilischen Wurzeln nicht so wahrgenommen, sondern mehr meine schweizerischen. Umso mehr freue ich mich darauf, mich als Sängerin nun noch intensiver mit meiner alten Heimat verbinden zu können.»
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