In den aktuellen Schweizer Büchercharts finden sich die deutschsprachigen Romane «Icebreaker» der englischen Autorin Hannah Grace (37) und «Hunting Adeline» aus der Feder der US-Amerikanerin H. D. Carlton. Und bei den Sachbüchern verkaufen sich top: «Can’t Hurt Me» vom Ausdauersportler David Goggins (49) aus den USA und «Knife», die persönliche Aufarbeitung des Messerangriffs auf den indisch-britischen Dichter Salman Rushdie (76).
Schaut man auf die in Deutschland massgebliche «Spiegel»-Bestsellerliste, so ergibt sich ein vergleichbares Bild: Auch dort greift die Leserschaft bei den Sachbüchern häufig zu «Knife» oder «Can’t Hurt Me», bei der Belletristik sind es die Übersetzungen von «The Hurricane Wars» der auf Englisch schreibenden Philippinerin Thea Guanzon oder «I Walk Between the Raindrops» vom US-Bestsellerautor T. C. Boyle (77).
Englisches Original und deutsche Übersetzung zeitgleich
Weshalb veröffentlichen Buchverlage aus Deutschland, Österreich und der Schweiz Übersetzungen aus dem Englischen vermehrt mit den Originaltiteln – oftmals sogar mit den Umschlaggestaltungen der Herkunftsverlage aus Grossbritannien oder den USA? Fehlt es den deutschsprachigen Herausgebern schlichtweg an Zeit und Geld oder übersetzerischer Kreativität?
«Weder noch, wir entscheiden pragmatisch», sagt Christina Knecht vom Münchner Hanser Verlag, der die deutschsprachigen Rechte an T. C. Boyle hat. «Wenn der Originaltitel griffig und leicht verständlich ist, wägen wir ab.» Oft wirke eine deutsche Übersetzung etwas behäbig. «Wenn uns aber eine bessere deutsche Variante gelingt, hat sie Vorrang», sagt Knecht weiter.
Wie bei Boyles aktuellem Erzählband «I Walk Between the Raindrops» entschied sich der Hanser Verlag bei dessen Stories-Sammlung «Good Home» von 2018 für den Originaltitel, ebenso beim letztjährigen Roman «Blue Skies». Doch den 2011 unter dem Titel «When the Killing’s Done» erschienenen Boyle-Roman veröffentlichte Hanser ein Jahr später unter dem Titel «Wenn das Schlachten vorbei ist».
An letztem Beispiel sind zwei Entwicklungen erkennbar: Erstens, der Trend hin zur Originalüberschrift setzt in den letzten zehn Jahren so richtig ein. Christina Knecht: «Es ist heute viel leichter, englische Titel zu verwenden.» Denn speziell bei der jungen Generation ist Englisch durch Social Media weit verbreitet. Zweitens vergingen früher noch ein, zwei Jahre zwischen Originalausgabe und Übersetzung – heute erscheinen sie häufig zeitgleich.
Übersetzungen mit Untertitel kenntlich gemacht
Die parallele Auslieferung von Rushdies neuem Buch beeinflusste denn auch die deutsche Titelfindung. «Wir haben uns bei ‹Knife› dazu entschieden, den Originaltitel zu übernehmen, da bei diesem Buch eine internationale Medienöffentlichkeit zu erwarten war, die eng mit dem englischen Titel verknüpft ist», sagt Katharina Hierling vom Penguin Verlag in München.
«Beide Ausgaben sind mittlerweile sehr häufig nebeneinander sichtbar», sagt Hierling weiter. Umso wichtiger sei es, die Übersetzung als deutschsprachiges Buch erkennbar zu machen. Dafür greift der Penguin Verlag beim Rushdie-Buch zu einem Hilfsmittel, wie Hierling sagt: «Durch unseren deutschen Untertitel ‹Gedanken nach einem Mordversuch› ist unsere Ausgabe klar als Übersetzung gekennzeichnet.»
Eine weitverbreitete Methode: «Power. Die 48 Gesetze der Macht» von Peter Greene (65), «Iron Flame. Flammengeküsst» von Rebecca Yarros (43) oder «Stop Overthinking. 23 Techniken, um Stress abzubauen, Negativspiralen zu unterbrechen und den Geist zu entlasten» von Nick Trenton sind andere aktuelle Bestseller von verschiedenen Verlagen.
Erreicht man damit die Tiktok-Generation, die auf Booktok Buchempfehlungen englischsprachiger Autorinnen und Autoren sieht und mit dem Smartphone in die Buchhandlung geht? Oft entscheiden sich die Jungen dort gleich für das Original, weil die Englischkenntnisse heute höher sind oder weil sie exakt dieselbe Ausgabe eines Werks besitzen wollen, die sie auf Tiktok gesehen haben.
Sogar deutsche Originalbücher haben englische Titel
Stirbt der Übersetzungsberuf – zumindest aus dem Englischen – aus? Ein Szenario, das sich in den Niederlanden abzeichnet: So berichtete kürzlich die «New York Times», dass «Candy House» von der US-Autorin Jennifer Egan (61) in Holland zu 65 Prozent in Englisch über den Ladentisch ging und nicht auf Niederländisch. Und das, obwohl einheimische Verlage bei ihren Übersetzungen mittlerweile auch auf Originalcover mit englischen Titeln setzen.
Droht dieser Bedeutungsverlust von Übersetzung auch bei uns? Sind englische Titel auf Buchumschlägen bloss ein letztes Aufbäumen? Zwar ist der deutschsprachige Buchmarkt einer der grössten der Welt und Englisch in der Bevölkerung weniger verankert als in den Niederlanden, aber, so Hierling vom Penguin Verlag: «Englisch etabliert sich in der Tat immer mehr als eine enorm wichtige Sprache auf dem deutschsprachigen Buchmarkt.»
Gehen deutschsprachige Übersetzungen verloren, sind vor allem englischsprachige Autorinnen und Autoren Leidtragende: Sie verdienen an englischen Exemplaren weniger als an Übersetzungen, und der Vertrieb ist schwieriger. «Ein englischer Verlag hat schlicht keine PR-Strategie für Deutschland», zitiert die «New York Times» Bonnier-Deutschland-Chef Christian Schumacher-Gebler, der Verlage wie Ullstein, Carlsen und Piper vertritt.
Die Dominanz des Englischen treibt indes seltsame Blüten: Einige Bestseller haben englische Titel, obwohl sie keine Übersetzungen sind – etwa «Save Me» der Deutschen Mona Kasten (32), «Views» von Marc-Uwe Kling (42) oder «Life Rebel» der Schweizerin Yvonne Eisenring (37). Der Grund ist oftmals lapidar, wie Catharina Stohldreier vom «Life Rebel»-publizierenden Piper Verlag sagt: «Manchmal ist eine englische Formulierung einfach schöner und treffender.»