Getrieben von der Arbeit hetzen wir durchs Leben, schauen weder links noch rechts – das kann warten, dem schenken wir später Beachtung. Doch plötzlich bemerken wir, dass die verbleibende Zeit nicht unendlich ist. «Und wenn ich uns beide betrachte, würde ich sagen, uns bleiben bestimmt noch 25 Sommer», sagt die eine zur anderen Romanfigur im aktuellen Belletristik-Bestseller «25 letzte Sommer».
Geschrieben hat das Buch ein Getriebener – einer, der weiss, was es heisst, unter Zeitdruck zu stehen: Stephan Schäfer (49), deutscher Journalist und Ex-Manager. Geboren im Ruhrgebiet, machte er die Axel-Springer-Journalistenschule, war Chefredaktor von «Schöner Wohnen», «Essen & Trinken» sowie der Frauenzeitschrift «Brigitte». Ab 2013 sass er im Vorstand des deutschen Verlagshauses Gruner + Jahr, ab 2019 in der Geschäftsführung von RTL.
Eine Begegnung wird zum Wendepunkt
2021 rückte Schäfer zum Co-CEO von RTL Deutschland auf und trieb die Zusammenführung von RTL und Gruner + Jahr voran. 2022 schied er aus und schrieb seinen Debütroman «25 letzte Sommer». Dort lassen sich jetzt nachdenkliche Sätze nachlesen wie folgenden: «Warum habe ich so viel Zeit mit Arbeit verbracht, anstatt mit den Menschen und Dingen, die mir wirklich etwas bedeuten?»
Das sagt Karl, Kartoffelbauer und Lebenskünstler auf einem idyllischen Hof am See. Ein Naturbursche, der nach dem Schwimmen nass und nackt aus dem Wasser entsteigt: «Gross, schlank, aufrechter Körperbau, rötliche Nase, dichtes graues Haar, ein liebevolles Lächeln zu frechen Augen, vielleicht Mitte sechzig.» Diese Begegnung mit Karl und die anschliessenden Gespräche werden für den Ich-Erzähler zu einem Wendepunkt im Leben.
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Auch wenn das Buch aus der Ich-Perspektive geschrieben ist, erzählende Figur und Schriftsteller darf man nicht gleichsetzen. Gewiss, Schäfer lässt in sein Erstlingswerk eigene Erfahrungen einfliessen: «Auf jeden Fall kenne ich das Gefühl, dass vom Leben selbst manchmal zu wenig übrig bleibt», sagt er. Aber er betont auch, dass das ein fiktionaler Text und somit seine geistige Erfindung sei.
Nach der zufälligen Begegnung am Seeufer verabreden sich die beiden Männer zu einem Treffen im alten Bauernhaus von Karl. «Eine Dreiviertelstunde später bog ich mit meinem Auto in Karls Hofeinfahrt ein.» Sie setzen sich an den Küchentisch und beginnen zu reden. «Karl wusste nach einer Stunde mehr von mir als mein Chef nach zehn gemeinsamen Jahren Bürotisch an Bürotisch.»
Roman ist Bestseller in Deutschland und der Schweiz
Der namenlose Ich-Erzähler erfährt andererseits von Karl, dass er den Hof vor gut 30 Jahren gekauft hat und dass dessen Frau Pferde züchtet und Reitunterricht gibt. Karl kümmert sich vornehmlich um die Kartoffeln. Das Paar hat gemeinsam fünf Kinder und ist stolz auf zehn Enkel. Fazit des Erzählers: «Unser beider Leben, so schien es, hätte nicht unterschiedlicher sein können – und doch fühlte ich mich verstanden.»
Auch viele Leserinnen und Leser fühlen sich vom Stoff angesprochen, ist «25 letzte Sommer» doch auf Platz 3 der deutschen «Spiegel»-Bestsellerliste und bei uns an 14. Stelle der Büchercharts. Der Roman fügt sich in eine Reihe aktuell heiss begehrter Selbstfindungsbücher wie «Mühlensommer» von Martina Bogdahn (48), «Das kleine Haus am Sonnenhang» von Alex Capus (62) oder «Am Meer» von Elizabeth Strout (68).
Hat Schäfer mit diesem Erfolg gerechnet? «Wer steht schon morgens auf und sagt sich: Heute schreibe ich einen Bestseller?», fragt er zurück. Aber heute scheint zumindest der richtige Moment für den ersten Roman zu sein. «Ich glaube, es gibt kein richtiges Alter für Neuanfänge», sagt Schäfer. «Für mich war jetzt der Zeitpunkt, etwas hervorzuholen, was tief in mir geschlummert hat: das Erzählen von Geschichten.»
Schäfer lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern (16 und 12) in Hamburg und in einem ländlichen Haus am Wasser in Norddeutschland. Vom fliegenden Manager zum gelassenen Familienvater – das klingt wie ein Bruch mit seinem früheren Leben. «Nein, ich habe meinen Beruf immer mit sehr viel Freude gemacht und als grosses Geschenk empfunden», sagt Schäfer.
Nächste Woche liest Schäfer in Bern und St. Gallen
Und ist der Roman nun ein Geschenk, das er sich selber zum 50. macht? «Da ich am 21. Mai meinen runden Geburtstag habe, könnte man das so sehen», sagt Schäfer. «Es ist mit Sicherheit eine der schönsten Erfahrungen, die ich in meinem Leben machen durfte.» Und weshalb hat er sich diese schöne Erfahrung nicht schon früher bereitet? Schäfer: «Mit 30 hätte ich diesen Roman noch nicht schreiben können.»
Das schwere Managerleben mit dickem Lohn, danach das leichte Poeten-Dasein samt fettem Leben im Häuschen am See – was sagt er zu all jenen, die sich einen solchen Ausstieg nicht leisten können und für ihr tägliches Brot weiterhin hart arbeiten müssen? «Weil mir die Antwort nicht zusteht, habe ich einen Roman und keinen Ratgeber geschrieben», sagt Schäfer.
Und in einem Punkt sind sich alle gleich: Das Leben jeder Person ist begrenzt und besteht «nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen», wie der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986) im Roman zitiert wird. Oder wie Schäfer selber schreibt: «25 Sommer. Ein Wort, eine Zahl, was für eine Dimension. Ich hatte so darüber noch nie nachgedacht. Es war vollkommen still, als ich die Augen schloss.»
«LandLiebe Literatur – auf Tour» mit Stephan Schäfer am Dienstag, 14. Mai, in der Buchhandlung Orell Füssli Spitalgasse, Bern, 20 Uhr; am Mittwoch, 15. Mai, im Orell Füssli Rösslitor, St. Gallen, 19.30 Uhr