Das Glas der Eingangstüre ist eingeschlagen. Einbruch. Doch der Täter schaffte es nicht rein. Rein in die Bar von Alex Capus an einer Durchfahrtsstrasse in Olten. In seiner Galicia Bar empfängt der Schweizer Schriftsteller nicht nur Gäste, sondern auch Medienschaffende. Capus ist Barbesitzer und Bestsellerautor. In seinem neusten Buch erzählt der 62-Jährige von seinen Aufenthalten in einem italienischen Ferienhaus, das er in den 90er-Jahren besass. Es ist sein persönlichstes Buch. Gleichzeitig erklärt er sein Schaffen. Wie er arbeitet, woher er seinen Stoff hat und warum er sich streckenweise vieles vorstellen muss. Immer wieder wird er mit der Frage konfrontiert: Fakten oder Fiktion? Und so fragt man sich beim Lesen auch ständig: Ist das wahr?
Herr Capus, haben Sie wirklich einen Siebenschläfer erschossen?
Alex Capus: (Lacht.) Ja.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie der Störenfried auf dem Estrich Sie plagte. Man muss sagen, er hatte seine Chancen.
Das stimmt. Es ging nicht anders. Er oder ich.
Haben Sie ihn bestattet?
Ja. Ich habe sogar einen grossen Stein draufgelegt, dass ihn Fuchs oder Dachs nicht wieder ausgraben.
Bald nach dieser Episode verkauften Sie das Haus im Piemont. Waren der Nager und all die durchgefressenen Leitungen der Grund?
Nein, aber er steht dafür, dass alles seine Zeit hat.
Bereuen Sie es, dass Sie das Haus verkauften?
Nein, ich denke nie zurück. Da ist meine Mutter mein Vorbild.
Erzählen Sie.
Vor eineinhalb Jahren zog meine 89-jährige Mutter ins Seniorenheim. Sie wohnte zwanzig Jahre in einem schönen Haus direkt an der Aare. Vermutlich im schönsten Haus in Solothurn. Doch sie konnte dort nicht mehr alleine leben. Ich holte sie ab und dachte, der Abschied wird emotional.
Aber?
Sie nahm ihre Jacke, ihr Täschchen und ihren Stock und ging zum Auto. Sie sagte: «So, jetzt gehen wir.» Sie schaute nicht einmal zurück. Sie ist fröhlich am neuen Ort angekommen.
In Ihrem neuen Buch erzählen Sie von sich selbst. Ist das Ihr persönlichstes Buch bisher?
Ja, das ist es. Natürlich ist es trotzdem auch Fiktion. Ich muss ja den Gesetzen der Dramaturgie folgen und Sinnzusammenhänge herstellen, die es objektiv vielleicht nicht gibt.
Dennoch: Man erfährt so einiges von Alex Capus.
Das liegt an meiner Lebenssituation. Ich bin 62, vieles verändert sich. Freunde gehen in Rente, man muss sich auch mit der eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzen. Es ist auch Zeit, um Bilanz zu ziehen.
Das ist aber kein Abschied?
Nein, nein. Ich bin noch hier und gesund. Ich will noch nicht grad sterben.
Ich meinte literarisch.
Nein, solange mir etwas in den Sinn kommt, mache ich das gerne. Aber ich habe keinen Druck mehr wie mit 30. Das ist schön.
Kommt jetzt bald Ihre Autobiografie?
Oh Gott, nein! Ich halte mich selber wirklich nicht für übertrieben interessant. Ich habe eine Begabung, das ist das, was ich mache. Das kann nicht jeder, und deswegen erzähle ich Geschichten.
Sie erzählen auch ganz genau, wie Sie arbeiten. Dass Sie sich, wenn Sie eine Fährte aufgenommen haben, über Strecken vieles vorstellen. Also Fakten und Fiktion vermischen. Warum dieses Rechtfertigen?
Weil ich das immer gefragt werde. Das geht mir selber genau so. Wenn ich ein Buch zuklappe, überlege ich ständig, wie hoch ist der Anteil von Fakten und Fiktion?
Sie schreiben von den 90er-Jahren. Manchmal bekommt man den Eindruck, früher war alles etwas leichter. Besser?
Auf keinen Fall! Bis zu den frühesten Momenten der Menschheit haben Menschen in der Summe nicht so gut gelebt wie heute. Als Geschichtenerzähler schaut man zurück. Ich weiss einfach gut Bescheid über die Epoche, in der ich dabei war. Ich bin wirklich frei von jeder Nostalgie.
Ich habe mich unpräzise ausgedrückt. Ich meinte: Die Zeit, die Sie beschreiben, kommt «unbekümmerter» daher. Ein Beispiel: Sie schreiben vom Renault 4, mit dem Sie ins Piemont reisten – auch mit Baby. Heutzutage fährt man mit einer supersicheren Familienkutsche, das Kind im besten Kindersitz, und die Fahrt nach Italien kann man ja so einem Baby sowieso nicht zumuten.
Ich glaube, das liegt nicht an der Epoche. Es gibt einfach solche und solche Eltern. Aber beim Babytransport wird etwas viel Gedöns gemacht. Auf dem Velo erst die Kappe, dann der Helm, dann die Leuchtweste. Man kann es auch übertreiben. Aber diese Sorglosigkeit in den 70er- und 80er-Jahren zahlte man auch mit vielen Verkehrstoten.
Da haben Sie recht.
Ich erzähle aber auch von einer relativ sorgenfreien Zeit aus meinem Leben. Ich war 30. Das ist eine Superzeit, man ist schon im Leben angekommen, hat aber noch nicht die 8000 Verpflichtungen.
Und noch nicht fünf Söhne. Ich habe zwei und derzeit ist es ein Tages-Highlight, wenn ich alleine auf die Toilette kann.
Ja, das ist diese Epoche im Leben. Die ist bei mir vorbei. Drei meiner Kinder sind erwachsen und ausgezogen. Der 13- und der 17-Jährige wohnen noch daheim. Es ist absehbar, dass auch sie ausziehen. Ich bin traurig: Immer, wenn einer aus dem Haus geht, ist das ein Abschied. Das muss man nicht schönschwätzen. Sie kommen schon wieder, an einem Sonntag, zum Essen. Aber man nimmt Abschied – neben der Befreiung ist das schmerzhaft. Diese Elternrolle hat man für eine Zeit im Leben, danach ist sie vorbei. Das muss man akzeptieren, sonst kommt das nicht gut.
Vor 30 Jahren veröffentlichte Alex Capus sein erstes Buch («Diese verfluchte Schwerkraft»). Der Bestsellerautor ist bekannt dafür, historische Stoffe aufzugreifen und daraus einen Roman zu machen. Er vermischt dabei Fakten mit Fiktion – und nennt dies «brüten». Es folgen zahlreiche Romane – und Preise. Capus stammt ursprünglich aus der Normandie. Als er fünf Jahre alt ist, kommt er mit seiner Mutter nach Olten SO. Hier lebt er bis heute und betreibt die Galicia Bar, wo er am liebsten schreibt. Seine Frau Nadja Capus ist Strafrechtsprofessorin. Das Paar hat fünf Söhne.
Vor 30 Jahren veröffentlichte Alex Capus sein erstes Buch («Diese verfluchte Schwerkraft»). Der Bestsellerautor ist bekannt dafür, historische Stoffe aufzugreifen und daraus einen Roman zu machen. Er vermischt dabei Fakten mit Fiktion – und nennt dies «brüten». Es folgen zahlreiche Romane – und Preise. Capus stammt ursprünglich aus der Normandie. Als er fünf Jahre alt ist, kommt er mit seiner Mutter nach Olten SO. Hier lebt er bis heute und betreibt die Galicia Bar, wo er am liebsten schreibt. Seine Frau Nadja Capus ist Strafrechtsprofessorin. Das Paar hat fünf Söhne.
Was meinen Sie?
Es gibt diese Mütter und Väter, die ihre längst erwachsenen Kinder nicht gehen lassen können und sie beglucken.
Es heisst doch, wenn man sie gehen lässt, kommen sie wieder.
Ja, aber es gibt keine Verpflichtung.
Herr Capus, Sie machen mir Mut. Ich bin teilweise masslos überfordert.
Wie alt sind Ihre Kinder denn?
Etwas mehr als zwei Jahre und sechs Monate.
Ahhh, das ist das richtig dicke Ende! Das bleibt nicht so, ich habe wirklich Erfahrung. Das Mühsame ist wirklich der Anfang. Das Windel-Alter. Sobald man nicht mehr im Coop Windeln kaufen muss, ist der Grossteil der Arbeit durch. Sie sind schon bald am Ende. Nur Mut, kommt gut.
Danke für Ihre Worte.
Manchmal sehe ich Mütter mit Kinderwagen und versteinerten Gesichtern. Sie haben mich ja nicht gefragt, aber ich würde ihnen am liebsten sagen: «He, das kommt schon gut. Von jetzt an gehts bergauf.»
Tun Sie das! Das sagt einem nämlich niemand so wirklich.
Das stimmt. Einst war dieses generationenübergreifende Wissen noch präsenter. In früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten war man einfach froh, wenn alle Kinder überlebten. Heute muss man aber mindestens alle am Konservatorium anmelden oder am MIT in Boston, bevor sie überhaupt in den Chindsgi gehen.
Sie sagen: Überleben ist schon mal gut?
Ja (lacht). Anständig ernähren und keine physische Gewalt, dann kommt das gut.
Haben Sie sich nie überlegt, als Fünffach-Vater einen Ratgeber zu schreiben?
Das wäre anmassend.
Warum?
(Lacht.) Die Rolle vom Ratgeber übernehme ich nicht gerne. Ratgeber sind ja immer etwas übergriffig. Jedes Schreiben ist etwas übergriffig. Alle, die in meine Nähe kommen, müssen ja damit rechnen, dass sie irgendwie einmal in einem meiner Bücher vorkommen. Schriftsteller sind indiskrete Leute.
Hätten Sie heute auch wieder fünf Kinder?
Ah ja! Das war kein Plan, aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wie mein Leben anders gewesen wäre. Wenn man fünf Kinder hat, kann man auch gar kein grosses Gedöns machen. Da wird nicht gefragt, ob ein Kind eine Kappe anziehen will oder nicht. Es zieht die Kappe an! Meine Frau und ich waren gewissermassen autoritär, wir hatten eine klare Linie.
Ein Beispiel?
Wir gingen immer schon viel in Restaurants. Unsere Kinder konnten noch nicht reden, wussten aber schon, wie man sich am Tisch benimmt. Wir sahen immer die vor Schreck geweiteten Augen, wenn wir mit der ganzen Truppe reinkamen, aber dann haben die sich benommen. Das ist überlebensnotwendig, wenn man mehr als zwei Kinder hat.
Apropos Restaurant. Sie setzen auf Bewährtes. Sie bestellen immer Pizza Fiorentina – mit Spinat, Gorgonzola und Ei. Das ist eklig!
Nein, das ist wunderbar! Das Ei muss nicht unbedingt sein. Ich habe einen grossen Wunsch nach Beständigkeit. Der Hauswart, der vorher gerade gegangen ist, kommt seit zehn Jahren jeden Morgen hierher in die Bar. Wir spielen jeden Morgen die obligaten drei Runden Billard. Ich bin auch seit 25 Jahren verheiratet und seit 30 Jahren mit dem Meitli zusammen. Und ich denke nie: Wie wäre es mit einer anderen? So ist es auch mit Olten. Also damit will ich nicht sagen, dass meine Frau wie Olten ist!
Ha! Das wär nicht nett, das lassen wir weg.
Ich bin nicht naiv: Wenn ich bei einem Psychologen auf dem Schragen liegen würde, würde er schnell darauf kommen, dass ich ein Scheidungskind bin. Dass ich in früher Kindheit von Paris nach Olten kam und dass das ein früher Bruch mit allem war. Von dort kommt mein Wunsch nach Beständigkeit.