Autoren ohne Publikum siegen
Das läuft beim Schweizer Buchpreis falsch

Am Sonntag geht in Basel die Verleihung des 16. Schweizer Buchpreises über die Bühne. Mit einer Gesamtpreissumme von 42’000 Franken ist er einer der renommiertesten im Land. Doch wer verdient ihn? Eine kritische Betrachtung.
Publiziert: 18.11.2023 um 11:00 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

So bunt wie letztes Jahr wirds am Sonntag bestimmt nicht; und es kommt anschliessend auch nicht zu einem derartigen Blätterrauschen im Medienwald wie 2022, als Kim de l’Horizon (31) den Schweizer Buchpreis für den Debütroman «Blutbuch» bekam: Der literarische Paradiesvogel präsentierte sich zur Preisverleihung im Theater Basel in einem bunten Kleid samt blumigem Kopfkranz – der zur Ehrung überreichte rosarote Rosen- und Lilienstrauss verblasste neben Kim de l’Horizon fast ein wenig.

Dieses Jahr dürfte es Grau in Grau über die Bühne gehen – passend zum herbstlichen Novemberwetter: «Sich lichtender Nebel» und «Der graue Peter» heissen zwei der nominierten Bücher der grau melierten Herren Christian Haller (80) und Matthias Zschokke (69). Daneben stehen Demian Lienhard (36) mit «Mr. Goebbels Jazz Band», Sarah Elena Müller (33) mit «Bild ohne Mädchen» und Adam Schwarz (33) mit «Glitsch» auf der Liste – allesamt eher graue Mäuse in diesem Schweizer Literaturjahr.

Bekommt zum zweiten Mal in Folge ein Debüt den Preis?

Die grössten Chancen schreiben Fachleute Müller mit ihrem düsteren Debütroman zu, in dem es um Kindesmissbrauch geht: In einem Schweizer Bergdorf lebt ein linksalternatives Paar samt der fünfjährigen Tochter, die häufig beim Nachbarn Ege ist; das kommt den Eltern in ihrem Selbstverwirklichungs-Trip nicht ungelegen – die Mutter ist Künstlerin, der Vater gibt sich dem Schutz bedrohter Tier- und Pflanzenarten hin. Doch was passiert derweil mit der Tochter in der Nachbarwohnung? Ein beklemmendes Buch.

Falls Müller den Schweizer Buchpreis 2023 bekommen sollte, wäre das zum zweiten Mal in Folge ein Debüt, das die Ehrung bekäme – und die Frage stellt sich allmählich, ob eine der renommiertesten Literaturauszeichnung des Landes mit der namhaften Gewinnsumme von 30’000 Franken zu einem Förderpreis für Neulinge verkommt. Im Jahr 2021 standen mit Thomas Duarte (56) und Veronika Sutter (65) gar zwei mit ihrem Buchdebüt in der engeren Wahl.

Sarah Elena Müller: Ist sie die diesjährige Gewinnerin des Schweizer Buchpreises?
Foto: Keystone

Für solche Buchprojekte gibt es in jeder grösseren Schweizer Gemeinde Förderpreise oder Werkjahre. Stiftungen ergänzen da und dort den finanziellen Topf. Der Schweizer Buchpreis hingegen sollte als Anerkennung für ein reifes Werk einer gestandenen Autorin, eines gestandenen Autors vorbehalten sein, die sich zuvor schon mit mindestens einem Buch bewiesen haben. Und dabei sollte die Jury nicht vor grossen Namen der Schreibenden oder Bestsellerbüchern zurückschrecken.

Das gelang in den Anfangsjahren ganz gut: 2012 als der emeritierte Literaturprofessor Peter von Matt (86) mit dem Essayband «Das Kalb vor der Gotthardpost» obsiegte; 2011 und 2014, als Melinda Nadj Abonji (55) und Lukas Bärfuss (51) mit ihren Zweitlingen «Tauben fliegen auf» beziehungsweise «Koala» die Jury überzeugen konnten. Alle erreichten auch ein grosses Lesepublikum, landeten auf Platz eins der Schweizer Büchercharts und waren 25 (von Matt), 31 (Nadj Abonji) und sogar 37 Wochen (Bärfuss) in der Bestsellerliste.

Wechselwirkung, bei der Preisjury und Publikum profitieren

Der Schweizer Buchpreis mag den Verkaufserfolg jeweils beflügelt haben, doch die Bücher scheinen auch den Publikumsgeschmack getroffen zu haben – eine Wechselwirkung, bei der im Idealfall beide, Preisjury und Publikum, profitieren. Und letztlich fördern grosse Namen die mediale Aufmerksamkeit. «Bücher brauchen Öffentlichkeit», sagte Eva Herzog (61), Präsidentin von Literatur Basel, dem Co-Träger-Verein des Schweizer Buchpreises, dementsprechend an der letztjährigen Preisverleihung.

Aber wer erinnert sich noch an «Carambole» (2013) von Jens Steiner (48) oder «Eins im Andern» (2015) von Monique Schwitter (51)? Wer kaufte «das alles hier, jetzt.» (2020) von Anna Stern (33), wer «Die Erfindung des Ungehorsams» (2021) von Martina Clavadetscher (44)? Alles ausgezeichnete Bücher, alle auf die eine oder andere Art preiswürdig, doch für den Schweizer Buchpreis vielleicht eine Nummer zu klein. Eine solche Ehrung dient auf die Dauer niemandem.

Anna Stern: War die Auszeichnung 2020 vielleicht eine Nummer zu gross?
Foto: Philippe Rossier

Keine Regel ohne Ausnahme: Die letztjährige Vergabe des Schweizer und zuvor schon des Deutschen Buchpreises an Neuling Kim de l’Horizon war ein Glücksfall. Das kann einmal funktionieren. Doch obs auch dieses Jahr klappt? Die Jury des Deutschen Buchpreises hat sich am 16. Oktober schon mal verhauen, als sie den österreichischen Autor Tonio Schachinger (31) mit der Siegersumme von 25’000 Euro für seinen Roman «Echtzeitalter» ehrte – kaum jemand nahm diese Auszeichnung wahr.

Warum war die grossartige Österreicherin Monika Helfer (76) mit «Die Jungfrau» nicht im Rennen für die Auszeichnung des besten deutschsprachigen Romans? Weshalb nicht der aufsehenerregende Roman «Noch wach?» des Deutschen Benjamin von Stuckrad-Barre (48)? Und wieso war der Österreicher Clemens J. Setz (41) mit dem fantastischen Roman «Monde vor der Landung» zwar auf der Longlist, schaffte es dann aber nicht auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis?

Charles Lewinsky war dreimal auf der Shortlist und ging leer aus

Eigentlich ist eh Daniel Kehlmanns (48) «Lichtspiel» der deutschsprachige Roman des Jahres. Aber leider kam das Buch erst im Oktober heraus, und für den diesjährigen Buchpreis war September der späteste Erscheinungstermin. Das war auch der Grund, weshalb der Verlag Kein & Aber den Roman «Der Traum vom Fliegen» von Milena Moser (60) nicht ins Rennen um den Schweizer Buchpreis 2023 schickte. Dass sie in San Francisco (USA) lebt, wäre kein Hindernis, da sie Schweizerin ist.

Franz Hohler: Warum bekommt er den Preis nicht für sein Lebenswerk?
Foto: Thomas Meier

Das ist wichtig, denn für den Schweizer Buchpreis muss man im Gegensatz zum Deutschen aus dem Land kommen oder mindestens seit zwei Jahren hier leben. Dafür muss das eingereichte Werk kein Roman sein, darf eine Novelle, ein Erzählband oder ein Essay sein. Weshalb kam hier also nicht Franz Hohler (80) mit «Rheinaufwärts» auf die Shortlist? Der Preis wäre gleichzeitig eine Auszeichnung für sein Gesamtwerk. Das Gleiche gilt für Bestsellerautor Martin Suter (75) mit «Melody», seinem besten Roman seit «Die dunkle Seite des Mondes» (2000).

85 Titel aus 55 Verlagen hatte die fünfköpfige Jury aus Literaturwissenschaft, Kritik und Buchhandel zu prüfen und hat immerhin Hallers Novelle «Sich lichtender Nebel» in die Endauswahl genommen – auch für den 80-Jährigen wäre der Buchpreis eine Würdigung des umfangreichen Gesamtwerks. Aber es steht zu befürchten, dass der alte weis(s)e Mann nur als schmückende Beigabe auf der Liste steht, um zu beweisen, dass man auch gestandenen Autoren eine Chance geben will.

Zu oft schon hat die wechselnde Jury namhafte Autorinnen und Autoren verheizt: 2008 in der ersten Ausgabe des Schweizer Buchpreises Adolf Muschg (89), im Folgejahr Urs Widmer (1938–2014), darauf Pedro Lenz (58) und Kurt Marti (1921–2017), 2014 Gertrud Leutenegger (74), nach ihr Ruth Schweikert (1964–2023) und zuletzt Thomas Hürlimann (72) – allesamt Namen, mit denen sich der Schweizer Buchpreis schmücken und seine Relevanz beweisen könnte.

2017 kam es gar zum Eklat, als der bereits zum zweiten Mal nominierte Urs Faes (76) «aufs Schäbigste öffentlich desavouiert wurde» («NZZ») und sich die früher preisgekrönten Nadj Abonji und Bärfuss mit ihm solidarisieren. Noch mehr Trost hätte Charles Lewinsky (77) verdient, der dreimal auf der Shortlist stand und den die Jury dreimal überging. Wenn nun Haller den Schweizer Buchpreis bekäme, würde sie für einmal Grösse zeigen – und beweisen, dass es keine Regel ohne Ausnahme gibt.

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