Literatur-Sensation Kim de l'Horizon treibt die Schweiz um
«Wir werden als Sündenböcke missbraucht»

Eine nonbinäre Person aus der Schweiz sorgt für die Literatursensation dieses Jahres: Kim de l'Horizon (30) spricht über den Debütroman «Blutbuch», Bundesrat Ueli Maurer und den bevorstehenden Schweizer Buchpreis.
Publiziert: 12.11.2022 um 17:18 Uhr
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Kim de l’Horizon, ich habe ein Problem mit dem «Es».
Kim de l’
Horizon: Weshalb?

In meiner Verwandtschaft sagten wir zu den Frauen «s Tante Emmi» oder
«s Heidi» – ich fand immer, dass dadurch Menschen zu Sachen werden.
Das sehe ich genauso wie Sie …

… und Sie schreiben es auch im Roman «Blutbuch»: «Die Frauen waren Gegenstände.»
Das «Es», wie’s im Schweizer Dialekt zur Anwendung kommt, gilt nur für Frauen, meist unverheiratete Frauen. Das ist ein Machtübergriff.

«Es» ist aber auch eine Bezeichnung für nonbinäre Personen, allerdings ist das «Es» in Ihrer Community nicht unumstritten.
Es gibt aber nonbinäre Personen, die das «Es» für sich wählen. Bei einer Selbstaneignung ist das vollkommen okay.

Kim de l'Horizon zu Ueli Maurer: «Er verwendet einen diffusen Begriff, der abwertend ist.»
Foto: keystone-sda.ch

Bundesrat Ueli Maurer verwendet das «Es» generell für alle nonbinären Personen: «Ob meine Nachfolge eine Frau oder ein Mann ist, ist mir egal. Solange es kein ‹Es› ist.» Ein sprachlicher Machtübergriff?
Genau, er benennt die Gruppe nicht, sondern verwendet einen diffusen Begriff, der abwertend ist. Vor 20 Jahren hätte er von Frauen auch so abwertend gesprochen. Jetzt sind wir einen Schritt weiter. Super, geht nun auch die SVP davon aus, dass Frauen regieren können.

In Ihrer Replik in der «NZZ» titeln Sie «Lieber John Unbekannt, lieber Ueli Maurer, ihr habt mich geschlagen, aber ich vergebe euch». Das klingt wie Jesus!
Momentan wird so viel aufgewiegelt, und es gibt bloss noch ein Gegeneinander. Da müssen sich die Menschen irgendwann vergeben, sonst schaukeln sie sich gegenseitig immer weiter hoch.

Das klingt sehr abgeklärt. Sie waren doch wütend!
Klar hat mich das verletzt und wütend gemacht, aber eine erwachsene Person muss die Gefühle anschauen und verstehen, und nicht aus ihnen heraus handeln.

Haben Sie das «Blutbuch» nach diesem Prinzip geschrieben?
Ich habe im Roman Gefühlen Raum gegeben. Das ist dann wie ein Gefäss, das sich ausleeren lässt, worauf es Raum für Neues gibt. Ich will die Gesellschaft weiterbringen durch Verständnis der Gefühle.

Haben Sie auch Verständnis für die Gesellschaft, die sich manchmal überfordert fühlt? Vor 20, 30 Jahren gab es noch keinen öffentlichen Diskurs über den Begriff «nonbinär».
Das stimmt, die Diskussion darüber ist bei uns neu, aber nonbinär gab es schon immer.

Wenn wir nur aufs 20. Jahrhundert zurückblicken: Wer war nonbinär?
Es gibt ganz viele. die ihr Geschlecht nicht nach binären Konventionen auslebten: David Bowie, Prince, Annemarie Schwarzenbach oder Marlene Dietrich. Aber es gab sie noch früher, vor allem in Kulturen, die nicht westlich geprägt sind. Kolonialisten haben solche Kulturen schnell als Wilde abgetan.

Erklären Sie unserer Leserschaft, was eine nonbinäre Person von einer Dragqueen unterscheidet.
Drag ist eine Geschlechterperformance – das ist eine überspitzte Darstellung von Geschlechtlichkeit. Und die unterscheidet sich von der Geschlechtsidentität, die aus dem Innern kommt. Nonbinär ist ein Gefühl, nicht einem binären Geschlecht zuzugehören.

Kim de l'Horizon

Kim de l'Horizon ist der Künstlername einer am 9. Mai 1992 in Ostermundigen BE geborenen nonbinären Person. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Winterthur ZH folgt das Studium der Germanistik, Film- sowie Theaterwissenschaften an der Universität Zürich und literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Biel BE. In der Spielzeit 2021/22 übernimmt de l'Horizon die Hausautorenschaft an den Bühnen Bern. «Blutbuch» ist der Debütroman, der im Oktober mit dem Deutschen Buchpreis (25'000 Euro) ausgezeichnet wurde. Kim de l'Horizon lebt in Zürich.

Kim de l'Horizon bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises am 17. Oktober 2022 in Frankfurt am Main.
Anne Morgenstern

Kim de l'Horizon ist der Künstlername einer am 9. Mai 1992 in Ostermundigen BE geborenen nonbinären Person. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Winterthur ZH folgt das Studium der Germanistik, Film- sowie Theaterwissenschaften an der Universität Zürich und literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Biel BE. In der Spielzeit 2021/22 übernimmt de l'Horizon die Hausautorenschaft an den Bühnen Bern. «Blutbuch» ist der Debütroman, der im Oktober mit dem Deutschen Buchpreis (25'000 Euro) ausgezeichnet wurde. Kim de l'Horizon lebt in Zürich.

Das zeigt sich aber nicht unbedingt äusserlich.
So ist es. Ich kenne nonbinäre Personen, die binär erscheinen, wenn sie durch die Strassen laufen. Und auch ich habe manchmal einfach Lust, eine Lederjacke und Jeans anzuziehen, was aber nicht heisst, dass ich dann weniger nonbinär wäre.

Bei nonbinären Personen gibt es Unterschiede etwa zwischen bigender, genderfluid oder genderqueer. Welchem Begriff fühlen Sie sich zugehörig?
Am liebsten bezeichne ich mich als genderfluid – der fliessende Übergang zwischen Mann und Frau. Ich bin nicht gegen etwas, sondern für Geschlechtervielfalt.

Hatten Sie schon als Kind dieses fliessende Gefühl?
Die meisten Kinder erleben Geschlecht als Spiel. Sie ziehen gerne Feenkleidchen an, spielen dann Superman und stecken sich anschliessend beim Schwimmen in einen geschlechtslosen Neoprenanzug. Alle Kinder haben Freude am Verkleiden.

Auch die Hauptfigur in Ihrem Roman. Doch dann kommt die Grossmutter dahinter und sagt: «Zieh dich um, das sind Mädchenkleider, du bist doch kein Mädchen.»
Schon von Geburt an wird uns gesagt, was wir sein sollen. Mädchenzimmer sind wie selbstverständlich pink. Und wenn dann das Kind pinke Sachen wählt, sagen die Eltern ganz überrascht: «Das hat es selber so gewählt.»

Wie können Eltern weniger dominant wirken?
Einem Kind sollte möglichst lange die Freiheit geboten werden, womit es spielt, ob mit Puppen oder Autos. Ich glaube, dass erst Erwachsene fähig sind, selber zu entscheiden. Vorher prägen einen Familie und Kultur.

Ein Wandel ist bereits festzustellen: Umfragen in den USA zeigen, dass sich Menschen bis 30 häufiger nonbinär bezeichnen als solche über 30.
Ich kenne einige Personen, deren Alter 40 aufwärts ist, die mir sagen: «Ich würde mich auch als nonbinär bezeichnen, aber ich bin nun zu alt dafür.»

Woher kommt die Zurückhaltung?
Das kommt wahrscheinlich daher, dass wir meinen, irgendwann erwachsen sein zu müssen – und erwachsen bedeutet landläufig abgeschlossen in unserer Identität.

Weshalb sehen das Menschen bis 30 anders?
Ein wichtiger Grund ist wohl das Internet. Auch für mich war es sehr wichtig, Körper zu sehen, die nicht in die binäre Schablone passen. Dass ich dann irgendwelchen Menschen in Schweden oder den USA followen konnte, das machte Mut.

Kim de l'Horizon zu Marlene Dietrich: «Was Geschlechterreichtum und Vielfalt anbelangt, gab es vor hundert Jahren grosse Freiheiten.»
Foto: imago images/United Archives International

Sie erwähnten Marlene Dietrich, Annemarie Schwarzenbach: Gab es in den Golden Twenties auch solche Communitys – einfach nicht im Internet, sondern in Clubs?
Exakt, und das zeigt, dass Fortschritt nicht linear verläuft. Was Geschlechterreichtum und Vielfalt anbelangt, gab es vor hundert Jahren grosse Freiheiten. Das ist in aktuellen Serien wie «Babylon Berlin» zu sehen oder bei Annemarie Schwarzenbach nachzulesen.

Warum sind wir heute nicht weiter?
Durch den Faschismus gab es einen starken Rückschritt. Der strebte eine reine Form von Geschlechtlichkeit an. Frauen haben dort nur die Rollen als Gebärmaschinen und als kümmernde Wesen.

Spätestens 1945 waren Mussolini und Hitler am Ende. Damit auch die Konzentration aufs Binäre?
Im Gegenteil: Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das US-kapitalistische Modell überhand – in den 1950er- und 60er-Jahren hat sich die Geschlechterbinarität auf anderen Gebieten verstärkt.

Wo denn?
Zum Beispiel in der Werbeindustrie, die Produkte propagierte, die eigens auf die «gute Hausfrau» zugeschnitten waren – die ganze Beauty-Industrie, Küchenutensilien …

… zum Beispiel das Abwaschmittel Palmolive, das mit dem Spruch «Sie baden gerade die Hände darin» auch als Handpflege verkauft wurde.
Die Beauty-Industrie gibt vor, dafür zu sorgen, dass Frauen sich wohlfühlen. Sie sollen sich schminken, ob sie wollen oder nicht. Es geht nicht darum zu spüren, was okay ist. Deswegen ist für mich Hexerei wichtig.

In welcher Form?
Im Wald reibe ich mich zum Beispiel mit Blättern ab. Oder bei abnehmendem Mond miste ich viel aus und lasse los.

Rituale, die Ihr Leben strukturieren?
Nein, es geht um Inspiration und nicht darum, Formen als einzige Wahrheit zu erfüllen. Das sehen Sie auch bei meinem Roman: Das Schreiben ist eine hexerische Praxis, um zu spüren, was da ist. Das ist magisch.

Nonbinarität gibt es in nichtwestlichen Traditionen, sagten Sie. Zeigt sich das noch irgendwo in Europa?
In Neapel hat sich die Tradition der Femminiello bis jetzt erhalten: Das sind nach heutigem Begriff transfeminine Personen, die in ihren Quartieren als Glücksbringer gelten.

Inwiefern?
Neugeborene werden zu einer solchen Person gebracht, auf dass sie in Zukunft Glück haben.

Kim de l'Horizon über Nonbinäre: «Wir werden insgesamt als Sündenböcke missbraucht. Das funktioniert nur, wenn wir nicht reden können.»
Foto: imago/Hannelore Förster

In Ihrem Essay fragen Sie, weshalb so viel über Sie, aber so wenig mit Ihnen gesprochen wird. Haben Sie eine Antwort?
Wir werden insgesamt als Sündenböcke missbraucht. Das funktioniert nur, wenn wir nicht reden können.

Unter dem Projekttitel «Equal Voice» versuchen wir bei Ringier, Frauen ihrem gesellschaftlichen Anteil entsprechend zu Wort kommen zu lassen. Müsste das nun auf nonbinäre Menschen ausgeweitet werden?
Ich bin kein Fan von Quoten. Nonbinäre sind eine Minderheit, und ich denke nicht, dass das jetzt zu je einem Drittel abgebildet werden müsste, aber es liesse sich durchaus ein bisschen mehr Rücksicht nehmen.

Kim im Roman sucht nach einer nonbinären Sprache. Aber mit «jemensch» statt «jemand» und «mensch» statt «man» hat Kim sich verrannt.
Wieso?

Weil das Wort «Mensch» wie «man» seine Wurzeln im Wort «Mann» hat.
Das sehe ich auch so. Deshalb suche ich für meine nächsten Projekte nach einem anderen Ausdruck.

Wäre der Verzicht von Pronomen ein probates Mittel, um Nonbinären gerechter zu werden?
Durchaus, denn Pronomen sind eine Interpretation eines Körpers. Sie sind Flüche, mit denen die Menschheit in eine binäre Form gebracht wird. Wenn statt «er» oder «sie» einfach Kim zur Anwendung kommt, dann entspannt das die Geschlechteraufregung.

Kim könnte sowohl ein weiblicher als auch ein männlicher Vorname sein. Bei Peter oder Maria wäre das Geschlecht aber schon klar.
Weil ein Name meist ein Urteil ist, das Eltern über uns fällen, bevor sie uns kennen. Ein Kind lässt sich erst nach und nach kennenlernen. Darum sollte möglichst viel offen sein, damit wir uns so entwickeln können, wie es für uns stimmt.

Kim de l’Horizon, Kim vom Horizont: Stehen Sie dort in einer rosigen Zukunft am Meer oder auf einer Bergspitze über dem Nebelmeer?
Am Horizont blicken Menschen auf den nächsten Horizont – es ist eine Grenze, die es gar nicht gibt, die sich stetig verschiebt. Ich hoffe, dass das den Blick erweitert.

Schweizer Buchpreis 2022

Das beste essayistische oder literarische Werk, das eine in der Schweiz lebende Person 2022 veröffentlichte: Folgende fünf Titel sind noch im Rennen um diese renommierte Auszeichnung:

- Simon Froehling, «Dürrst», Bilger
- Lioba Happel, «Pommfritz aus der Hölle», Edition Pudelundpinscher
- Kim de l'Horizon, «Blutbuch», Dumont
- Thomas Hürlimann, «Der Rote Diamant», S. Fischer
- Thomas Röthlisberger, «Steine zählen», Edition Bücherlese

Die Preisverleihung geht am Sonntag, 20. November, ab 11 Uhr im Theater Basel über die Bühne. Der Hauptpreis beträgt 30'000 Franken, die weiteren Nominierten erhalten je 3000 Franken.

Melinda Nadj Abonji gewann 2011 für «Tauben fliegen auf» den Deutschen und den Schweizer Buchpreis.
Thomas Meier

Das beste essayistische oder literarische Werk, das eine in der Schweiz lebende Person 2022 veröffentlichte: Folgende fünf Titel sind noch im Rennen um diese renommierte Auszeichnung:

- Simon Froehling, «Dürrst», Bilger
- Lioba Happel, «Pommfritz aus der Hölle», Edition Pudelundpinscher
- Kim de l'Horizon, «Blutbuch», Dumont
- Thomas Hürlimann, «Der Rote Diamant», S. Fischer
- Thomas Röthlisberger, «Steine zählen», Edition Bücherlese

Die Preisverleihung geht am Sonntag, 20. November, ab 11 Uhr im Theater Basel über die Bühne. Der Hauptpreis beträgt 30'000 Franken, die weiteren Nominierten erhalten je 3000 Franken.

Wenn wir in die Zukunft blicken: Haben Sie schon mit Melinda Nadj Abonji telefoniert?
Nein, noch nicht – gestern sah ich sie auf dem Velo vorbeiflitzen.

Sie bekommen vermutlich wie Melinda Nadj Abonji 2011 nach dem Deutschen den Schweizer Buchpreis.
Das lässt sich nicht sagen, wir werden sehen.

Haben Sie einen Haarschneider im Hosensack für eine allfällige Siegesperformance?
Nein, die Haare sind noch nicht genug nachgewachsen, als dass ich sie wieder schneiden könnte.

Ja, Ihre Rasur in Frankfurt aus Solidarität mit den iranischen Frauen war radikal.
Wer so privilegiert ist und in der Schweiz lebt, muss für ein politisches Statement etwas machen, was ein bisschen wehtut. Ich erbrachte ein Opfer, indem ich die Haare abschnitt, die ich sehr gerne hatte.

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