Frühere Feuilletonisten hätten in einem ähnlichen Fall wohl von einem «Wunderknaben» oder «Fräuleinwunder» gesprochen, doch wir schreiben hier bloss von einem Wunder: Kim de l’Horizon (30), non-binäre Person aus der Schweiz, bekam letzten Montag zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den mit 25’000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis. Damit geht diese renommierte Auszeichnung nach 2010 mit Melinda Nadj Abonji (54, «Tauben fliegen auf») erst zum zweiten Mal in unser Land.
Ein mutiger Entscheid, ein mutiger Auftritt: Mit Schminke, Schmuck und Schnauz tritt Kim de l’Horizon auf die Bühne und sagt erst einmal «wow!». Dann folgen ein paar tränenreiche Dankesworte an die Mutter und ein englisches Lied. Schliesslich zückt de l’Horizon einen Rasierapparat und, ritsch, ratsch!, sind die Kopfhaare weg – aus Solidarität mit den Frauen im Iran. Fast so medienwirksam wie Rainald Goetz (68), der sich 1983 während seiner Lesung um den Ingeborg-Bachmann-Preis die Stirn ritzte, worauf das Blut auf den Text tropfte.
«Blutbuch» heisst das Werk, das nun in Frankfurt den Preis als «bester deutschsprachiger Roman des Jahres» bekam – nicht de l’Horizon, auch wenn die schrillen Auftritte mehr mediale Aufmerksamkeit erregten als der Inhalt des Buchs. Doch was steckt im Debütroman? Wen wunderts: Auch im Text ist viel von der schreibenden Person drin – autofiktionales Schreiben ist en vogue, wie schon der diesjährige Literaturnobelpreis für die Französin Annie Ernaux (82) zeigt.
«Die Mütter ertrinken in ihrem Kinderglück»
Kim de l’Horizon kommt 1992 in Ostermundigen BE zur Welt; der Künstlername ist das geniale Anagramm des Geburtsnamens – alle Buchstaben stehen in anderer Reihenfolge da. Nach dem Gymnasium in Winterthur ZH studiert de l’Horizon in Zürich Germanistik, Film- und Theaterwissenschaften. 2020 folgt ein Studium für literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Biel BE. In der Spielzeit 2021/22 hat de l’Horizon die Hausautorenschaft am Schauspiel Bern inne.
«Meine Muttersprache ist das Reden», sagt die Hauptfigur Kim im Roman. «Meine Vatersprache ist das Schweigen. Und meine eigene Sprache sind Zungen, und meine Zungen tropfen, tröpfeln, verschwimmen, strömen, wurzeln, fliessen.» Fliessende Schreibe, «Ecriture fluide», nannte das de l’Horizon in einem Zeitungsporträt. Tatsächlich ist in diesem Buch alles im Fluss, alles ständig in Bewegung, nichts lässt sich greifen. Doch trotz fliessender Übergänge von Geschichte zu Gedicht, Liste zu Protokoll, Dialog zu Brief liest sich das Buch erstaunlich flüssig.
Kim de l‘Horizon ist eine ungemein sprachmächtige Person, die fantastisch formuliert: «Die Nacht ist klein. Doch die Stadt ist kleiner. Sie ertrinkt zur Gänze in der Nacht. Die Familienmenschen ertrinken im Schein der Ikea-Küchenlampen. Ihre Träume ertrinken in den Kürbissuppentellern. Die Mütter ertrinken in ihrem Kinderglück. Die Väter ertrinken in ihren hellblauen Hemden.» Atemlose, präzise Sätze, die nach Luft schnappen wie ein Mensch unter Wasser.
Von Verlusten und Verletzungen
Kein Wunder, denn Meer und Grossmeer überlagern das Buch – abgeleitet vom französischen Mère für Mutter und Grossmutter. Die Ältere verfällt der Demenz, und die Romanfigur Kim spricht sie wie in einem Briefroman oder wie im Kinderbuch «Winnie the Pooh» mit Du an: «Grossmeer, ach Grossmeerchen, du bist ein grosses Märchen geworden, wiederholst dich, bewegst dich in Formeln, bist ein Stück Vergangenheit, das uns heimsucht, du bist ein grosses Mädchen geworden.»
Verluste und Verletzungen sind es, die de l’Horizon zum Schreiben bringen. So auch in einem Essay für die «NZZ» von gestern Samstag, worin es um zwei Faustschläge geht: einen realen in der Berliner U-Bahn und einen verbalen durch Ueli Maurer (71), der sich kein «Es» in der Bundesrats-Nachfolge wünscht. «Ich möchte durch diese Wunden sprechen», so de l’Horizon. Denn im eingangs erwähnten Wunder steckt das Wort Wunde, aus der das Herzblut tropft, mit dem «Blutbuch» geschrieben wurde.
Der Roman wird am 20. November höchstwahrscheinlich auch den Schweizer Buchpreis abräumen, selbst wenn dadurch der ebenso tolle, nominierte «Rote Diamant» von Thomas Hürlimann (71) auf der Strecke bleibt. Es wäre erst das zweite Mal, dass eine Person beide grossen deutschsprachigen Literaturauszeichnungen bekommt – nach Melinda Nadj Abonji 2010.
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