Schweizer-Buchpreis-Gewinnerin Martina Clavadetscher
«Ich musste der Sauberkeit Dreck entgegenschreiben»

Die in Brunnen SZ aufgewachsene Autorin Martina Clavadetscher (42) über den Gewinn des Schweizer Buchpreises 2021 mit «Die Erfindung des Ungehorsams», den aktuellen Verlust an Ruhe und ihren eigenen Ungehorsam.
Publiziert: 14.11.2021 um 17:26 Uhr
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«Noch etwas überfordert vom ganzen Rummel»: Schweizer-Buchpreis-Gewinnerin Martina Clavadetscher.
Foto: Keystone
Interview: Daniel Arnet

Herzliche Gratulation zum Gewinn des Schweizer Buchpreises, Frau Clavadetscher. Wie fühlen Sie sich heute?
Martina Clavadetscher:
Ganz gut. Noch etwas überfordert vom ganzen Rummel, den vielen Gefühlen, aber langsam wird die Sache auch realer.

Wird für Sie jetzt alles andere zur Nebensache?
Ich hoffe nicht! Ich möchte bald wieder in Ruhe schreiben können.

«Alles andere wird zur Nebensache», lautet der erste Satz Ihres nun preisgekrönten Romans «Die Erfindung des Ungehorsams». Ist Ihnen dieses Buch nun das liebste?
Nein, aber lustig, dass Sie das fragen. Ich dachte kurz nach der Preisverleihung darüber nach, ob meine anderen Bücher jetzt eifersüchtig und beleidigt zu Hause liegen. Aber dazu gibt es keinen Grund, ich habe sie alle lieb.

Auch Ihren ersten Roman «Knochenlieder», mit dem Sie 2017 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises landeten, aber schliesslich nicht gewannen?
Ja, sehr sogar! «Knochenlieder» war noch konsequenter und radikaler – zudem bin ich mir sicher, es gäbe «Die Erfindung des Ungehorsams» ohne «Knochenlieder» nicht. Aus der Distanz betrachtet scheint das Schreiben sowieso ein aufbauender Prozess – es wächst und wuchert auf bereits Bestehendem.

Aber das Wertvollste ist Ihr neuestes Buch allemal – immerhin bringt es Ihnen nun die Preissumme von 30'000 Franken ein.
Das ist korrekt.

Welchen Jahreslohn ergibt das, wenn Sie die Arbeitszeit am Buch berücksichtigen?
Der läge wohl weit unter allen Mindestlöhnen.

Was werden Sie mit der Preissumme machen?
Ich werde davon leben. Rechnungen bezahlen, wie alle anderen auch.

Ihr Roman handelt von drei Frauen auf der Suche nach dem Kern der Dinge – eine Tätigkeit, die bisher Männerfiguren wie etwa Goethes Faust vorbehalten war.
Nur rein äusserlich gesehen war diese Suche lange den Männern vorbehalten, weil über lange Zeit eben vor allem Männer Geschichten und die Geschichte schrieben. Das heisst aber nicht, dass Frauen nicht auch – von der Öffentlichkeit leider ungesehen und verdrängt – sehr hartnäckig auf allen Gebieten danach gesucht haben.

Die Kritik schwankt in der Beschreibung Ihres Buchs zwischen «techno-feministischer Utopie» und einer «Dystopie aus ‹Frankenstein› und neuer digitaler Welt». Was ist für Sie zutreffender?
Ich wollte weder eine Utopie noch eine Dystopie schreiben. Viel wichtiger war mir das Spannungsfeld zwischen vermeintlicher Künstlichkeit und biologischer Echtheit, zwischen Programmierung, biologischem und sozialisiertem Bauplan. Wo verschwimmen die Grenzen? Wie echt sind wir echten Menschen wirklich?

Die Verbindung zu «Frankenstein» ist aber offensichtlich: So eröffnen Sie den Roman mit einem Zitat der Autorin Mary Shelley, und eine Romanfigur trägt ihren Mädchennamen Godwin. Ist Mary Shelley für Sie schriftstellerisch ein Vorbild?
Mary Shelley war für dieses Buch sehr prägend. Einerseits mit ihrem Schöpfungsmotiv, andererseits mit dem grossartigen Gruselfaktor. Aber auch für den Aufbau. Meine verschachtelte Erzählform verdanke ich Shelley. Deswegen auch die Würdigung.

Ist Ihr Roman ein weiblicher «Frankenstein»? So arbeitet die Romanfigur Ling in einer Fabrik für kopflose Sexpuppen, die dann ein Eigenleben bekommen.
Dr. Frankenstein ist ein Opfer seines Machbarkeitswahns, während Ling in meinem Buch die Klarheit und Makellosigkeit der Körper mag. Die Puppen sind einheitlich, einfach und gefügig, dann kommt aber der Kopf hinzu, der Geist, die Sprache – und hier wird es spannend, hier kippt die Angelegenheit, hier beginnen zum Glück die Widerstände.

Einmal fällt der Satz «Der Kopf ist tabu. Im Kopf wohnen die Gedanken».
Aber sind es nicht gerade der Kopf und die Gedanken, auf die es alle modernen Frankensteins im digitalen Zeitalter abgesehen haben?

Sie meinen, dass die modernen Frankensteins es auf die Inhalte und Kontrolle der Gedanken abgesehen haben? Ich glaube, die haben es alle nur auf Geld abgesehen; die Gedanken und Wünsche sind einfach der Weg dahin.

Können Sie sich mit dem Preisgeld einen Wunsch erfüllen, den Sie bisher nicht finanzieren konnten?
Ich habe darüber nachgedacht, mir vielleicht endlich mal ein GA zu kaufen.

In der Begründung für die Preisübergabe schreibt die Jury des Schweizer Buchpreises: «Martina Clavadetscher hat einen Roman über künstliche Intelligenz geschrieben, wie es ihn noch nicht gab: formal avanciert und hochgradig sinnlich.» Auf was sind Sie stolzer: auf das Formale oder das Sinnliche?
Ich muss zugeben, dass mir das Sinnliche sehr am Herzen lag. Gerade weil die Themen des Romans sehr schnell technisch, künstlich und kalt werden können, wollte ich diese erfundene Welt mit einer starken Körperlichkeit versehen. Ich wollte, dass sie fühlbar wird, riechbar, es sollte stinken, qualmen, schmerzen. Ich musste dieser klinischen Sauberkeit eine ganze Menge Dreck entgegenschreiben. Schönen Dreck.

Sie sind ursprünglich Dramaturgin und haben 2013 mit einem Theaterstück in Luzern debütiert. Zieht es Sie nach dem Roman zurück auf die Bühne?
Ich war nie weg von der Bühne. Am Schauspiel Leipzig wird mein «Ada»-Stück noch immer gespielt, ans Staatstheater Braunschweig kommt es diesen Dezember, und ich werde für das Stadttheater Bern und danach für das Theater Marie ein Stück schreiben. Da kommt sogar sehr viel Theater auf mich zu.

Wann entscheidet sich für Sie, ob ein Thema zu einem Roman- oder Bühnenstoff wird?
Ich weiss es nicht, meist ist es ein Gefühl. Aber ein guter Stoff ist am Ende einfach ein guter Stoff, da spielt die Gattung keine Rolle mehr. Kategorien mochte ich sowieso noch nie, dafür bin ich zu verspielt und zu ungehorsam.

Martina Clavadetscher, «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag


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