«Corona sensibilisiert uns hoffentlich»
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Interview mit Anna Stern
«Corona sensibilisiert uns hoffentlich»

Sie gewinnt mit ihrem Roman «das alles hier, jetzt.» den Schweizer Buchpreis 2020 und schreibt an der ETH eine Doktorarbeit in Umweltnaturwissenschaften: Anna Stern (30) über Andacht, Antibiotika und angelsächsische Literatur.
Publiziert: 30.11.2020 um 07:02 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 14:33 Uhr
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«Für mich war das Schreiben des Textes die Verarbeitung eines Todes», sagt Anna Stern …
Foto: Philippe Rossier
Interview: Daniel Arnet

Frau Stern, im September verstarb meine Mutter, gleichzeitig erschien Ihr neuer Roman «das alles hier, jetzt.», in dem es um Todes-Verarbeitung geht. Das passende Buch für mich?
Mein Beileid zum Tod Ihrer Mutter. Für mich war das Schreiben des Textes die Verarbeitung eines Todes, nicht das Lesen.

Wie lange liegt dieser Tod zurück?
Zweieinhalb Jahre. Wie das neue Buch auf einen Leser wirkt, der frisch mit einer solchen Erfahrung konfrontiert ist, kann ich schwer einschätzen.

Die Trauer hat vielleicht eine andere Qualität: Im Buch geht es um einen jungen Menschen, meine Mutter war eine hochbetagte Frau; bei Jungen schreibt man meist, «wurden aus dem Leben gerissen», Alte «wurden von den Leiden erlöst».
Jeder Mensch, der stirbt, ist ein Verlust – und der steht zu Beginn im Zentrum. Aber bei einem jungen Menschen schaut man schnell darauf, was noch möglich gewesen wäre, anstatt für das dankbar zu sein, was man miteinander erlebte.

Dieses gemeinsam Erlebte, die Erinnerung daran, gewichten Sie im Roman. Steht für Sie das Leben über dem Tod?
Ich schrieb den Text für mich, nicht wissend, ob er publiziert wird oder nicht. Ich überlasse es nun den Lesenden, was sie daraus machen. Aber mit einem Buch verbringt man einige Zeit, und das soll auch Lebensfreude bereiten.

Es ist also nicht Ihr primäres Ziel, mit dem Buch zu trösten?
Es freut mich als Autorin, wenn es jemandem Halt gibt – das zeigt, dass andere Menschen mit vergleichbaren Erfahrungen ringen. Aber für mich hat Literatur nicht die Aufgabe, Lösungen anzubieten. Sie soll Fragen stellen: Welche Werte teilen wir als Gesellschaft? Wie gehen wir miteinander, mit der Umwelt um?

Sie studierten Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich und schreiben nun Ihre Doktorarbeit über Antibiotikaresistenzen. Der Tod scheint auch Bestandteil Ihrer Forschung zu sein.
Bei mir ist es der Tod der Bakterien, der im Mittelpunkt steht: Ich untersuche die Mechanismen, die sie gegen die zur Verfügung stehenden Medikamente resistent machen – untötbar quasi.

Ein mörderischer Job. Und die menschlichen Folgen der Resistenz?
Da ich in meiner Forschung nicht mit Patienten zu tun habe, sehe ich diese im Alltag nicht. Aber wenn die Entwicklung mit den Antibiotika-Resistenzen so weitergeht, dann sagen Prognosen ab 2050 jährlich zehn Millionen Tote voraus. Heute sind es Schätzungen zufolge bereits 700'000 weltweit.

Das ist aktuell die Hälfte aller Corona-Toten.
Ja, aber bei Corona ist es ein einziges Virus, das die Infektion verursacht. Antibiotikaresistenz betrifft zahlreiche Bakterien, eben auch solche, die Menschen infizieren und sich dann nicht mehr mit Medikamenten bekämpfen lassen.

Überraschte Sie die Corona-Pandemie?
Die Intensität ja, die Tatsache der Pandemie an sich womöglich weniger als manch andere. Im Juli 2019 war ich an einer Konferenz in Glasgow. Dort sprach der britische Zoologe Peter Daszak, der Viren-Übertritte von Tieren auf Menschen erforscht. Und er warnte damals vor einem Ausbruch in Südwest-China.

Die Provinz Hubei, wo die Corona-Pandemie ihren Anfang nahm, liegt in der Nähe.
Genau. Bei den Menschen vor Ort, die eng mit Fledermäusen in Kontakt kamen, fand man früher schon Antikörper auf Coronaviren – ohne bekannte Infektion.

Wo liegt der Unterschied zur heutigen Pandemie?
Diese Viren waren wahrscheinlich nicht von Mensch zu Mensch übertragbar. Dass es jedoch irgendwann so kommen könnte, davor warnte Daszak. Aber es ist nicht von Interesse, in Forschung zu investieren, solange nichts geschieht. Und wenn Wissenschaftler warnen und es passiert nichts, sagt man, das sei Alarmismus – Prävention ist unattraktiv.

Müssen wir mit Infektionskrankheiten leben?
Epi- und Pandemien gibt es, seit der Mensch sesshaft ist. In der westlichen Welt waren grössere Ausbrüche in den letzten 70 Jahren selten, in weniger privilegierten Regionen gehören Tuberkulose, Malaria oder Wurminfektionen aber immer noch zum Alltag. Die Corona-Pandemie führt uns die ausserordentliche Lage vor Augen, in der wir hier seit den 1950er-Jahren lebten.

Ist also die Abwesenheit einer Pandemie der Sonderfall, nicht die Pandemie?
Überspitzt ausgedrückt, und Corona sensibilisiert uns hoffentlich: Wenn wir das Gröbste hinter uns haben, wäre vermehrtes vorausschauendes Handeln wünschenswert, damit sich Ähnliches nicht bald wiederholt.

Könnten Sie sich vorstellen, Corona literarisch zu verarbeiten?
Im Moment eher nicht – das Thema ist zu aktuell, zu dynamisch. Ich sehe auch keinen Roman mit einer Pandemie im Zentrum: keinen Bioterrorismus-Action-Thriller etwa. Aber Corona könnte in einen Text reinkriechen, weil es unser Leben in all seinen Facetten betrifft.

Ist Schreiben für Sie wie ein naturwissenschaftliches Experiment?
Wenn ich im Labor forsche, will ich etwas herausfinden, das noch niemand in der Form beobachtet hat. Beim Schreiben versuche ich eine Beobachtung, die ich nicht verstehe, zu Papier zu bringen. Ich möchte dem einen Sinn geben.

Forschung führt also zur Beobachtung, beim Schreiben steht die Beobachtung am Anfang.
Ja, so kann man das sagen. Aber am Anfang eines Textes steht immer auch ein Ergründen, ein Experimentieren.

Wenn Sie zwischen Schreiben und Forschen entscheiden müssten, was würden Sie wählen?
Als ich mein erstes Buch zu Beginn des Studiums veröffentlichte, war für mich klar, dass ich Literatur und Naturwissenschaften so lange wie möglich kombinieren möchte. Ich dachte dann, irgendwann komme der Zeitpunkt, an dem ich mich entscheiden muss.

Und?
Ich fand immer wieder Unterstützung, sodass ich nach wie vor schreiben und forschen kann. Ich habe beispielsweise einen sehr toleranten Doktorvater: Er beantragte, dass ich zu 80 Prozent doktorieren kann, wodurch ich mehr Flexibilität in Sachen literarischer Verpflichtungen habe.

20 Prozent reichen wohl nicht für einen Roman.
Ich schreibe häufig an Wochenenden oder in Ferien: Dieses Jahr war ich im Sommer für fünf Wochen in Finnland, um an neuen Texten zu arbeiten.

Haben Ihre Kommilitonen Interesse an Ihrem literarischen Schaffen?
Ich kenne in unserem Institut viele breit interessierte Menschen: Die sind nicht bloss auf ihr Fachgebiet konzentriert; die stehen dem kulturellen und politischen Zeitgeschehen sehr offen gegenüber.

Haben Sie literarische Gespräche?
Ja, häufig. Manchmal kommen Kollegen sogar an meine Lesungen. Ich bin hier nicht die Einzige, die Naturwissenschaft mit Kunst kombiniert.

Trotzdem ist Ihre Kombination verglichen zu früher selten: Albrecht Haller, Georg Christoph Lichtenberg, Johann Wolfgang von Goethe waren Schriftsteller und Naturwissenschaftler. Heute gibt es das kaum noch.
Nach der Matur hört bei uns die mehrgleisige Ausbildung auf, und jeder spezialisiert sich. Früher hatte man selbst an einer Universität noch eine breite Ausbildung. Heute ist der Zwang zur Spezialisierung einerseits vom System her gegeben, weil sich gewisse Studienfächer gar nicht kombinieren lassen. Andererseits hat jedes Gebiet über die Jahrhunderte derart viel Wissen angehäuft.

Sie schaffen es trotzdem, auf zwei Gebieten Spitzenleistungen zu erbringen: Sie sind Doktorandin an der ETH und haben für «das alles hier, jetzt.» den Schweizer Buchpreis 2020 gewonnen.
Mir fehlt allerdings eine literaturwissenschaftliche Ausbildung, sodass ich man das eigene Schreiben nicht in einen Kontext setzen kann.

Aber Sie haben bestimmt literarische Vorbilder.
Ja, ich lese sehr viel. Es gibt für mich gewisse Autoren, die bilden meine Literaturapotheke – die kann ich wieder und wieder lesen.

Wen zum Beispiel?
F. Scott Fitzgerald, von den Kurzgeschichten bis zu «Great Gatsby»; Virginia Woolf, die mit dem Bewusstseinsstrom formal auch viel Neues ausprobierte; und eine Entdeckung, die ich dieses Jahr machte, ist Hilary Mantel – ich ging bisher immer davon aus, dass mich historische Romane nicht derart packen können.

Das sind nur angelsächsische Literaten.
Ich lese kaum deutschsprachige Autoren, weil mich das zu sehr ablenkt und ich dann zu stark über die Sprache nachdenke. Aber ich könnte noch die Franzosen nennen, die ich gern lese: Fred Vargas und Patrick Modiano zum Beispiel.

Swann heisst eine Figur in «das alles hier, jetzt.» – da denkt man sofort an «Du côté de chez Swann» von Marcel Proust. Ist der Autor für Sie auch wichtig?
Der Name steht nicht zufällig, aber die erste Referenz ist der Schwan als Tier, der mich seit dem ersten Buch begleitet.

Ananke, Ichor, Avi, Egg oder Swann: Für Ihre aktuellen Romanfiguren wählten Sie ausgefallene Namen, oft mit einer tieferen Bedeutung. Setzen Sie die Kenntnis bei der Leserschaft voraus?
Man kann den Text auch lesen und verstehen, ohne diese Ebene zu durchschauen. Manche Namen kommen aus dem Griechischen, andere habe ich aus Büchern, die mir viel bedeuten, und wieder andere sind zufällige Aneinanderreihungen von Buchstaben.

Weshalb haben Sie sich selber das Pseudonym Anna Stern zugelegt? Sie heissen ja richtig Anna Bischofberger.
Bischofberger ist sehr schweizerisch und wird häufig falsch geschrieben oder ausgesprochen. Bei meinem ersten Roman kam vom Verlag die Anfrage, ob ich bereit wäre, einen Autorennamen zu wählen. Stern kommt von meiner ersten E-Mail-Adresse und einer alten Faszination für den Nachthimmel.

Stern am Literaturhimmel aufgegangen

1990 kommt Anna Bischofberger in Rorschach SG zur Welt, wo sie auch aufwächst. Schon als Teenager legt sie sich das Pseudonym Anna Stern zu, das sie 2014 für ihren Debüt-Roman «Schneestill» verwendet. Unter dem gleichen Namen veröffentlicht sie den Kriminalroman «Der Gutachter» (2016) und den Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» (2018). 2018 nimmt sie am Wettlesen um den Bachmann-Preis in Klagenfurt (A) teil und gewinnt den 3sat-Preis. 2019 folgt ihr Roman «Wild wie die Wellen». Parallel schreibt sie im Institut für Umweltnaturwissenschaften der ETH Zürich an ihrer Dissertation zum Thema Antibiotikaresistenzen. Für ihren vierten Roman «das alles hier, jetzt.» erhält sie 2020 den mit 30'000 Franken dotierten Schweizer Buchpreis und lässt namhafte Mitkonkurrenten wie Charles Lewinsky und Dorothee Elmiger hinter sich. In der Begründung der Jury heisst es: «Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen.»

1990 kommt Anna Bischofberger in Rorschach SG zur Welt, wo sie auch aufwächst. Schon als Teenager legt sie sich das Pseudonym Anna Stern zu, das sie 2014 für ihren Debüt-Roman «Schneestill» verwendet. Unter dem gleichen Namen veröffentlicht sie den Kriminalroman «Der Gutachter» (2016) und den Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» (2018). 2018 nimmt sie am Wettlesen um den Bachmann-Preis in Klagenfurt (A) teil und gewinnt den 3sat-Preis. 2019 folgt ihr Roman «Wild wie die Wellen». Parallel schreibt sie im Institut für Umweltnaturwissenschaften der ETH Zürich an ihrer Dissertation zum Thema Antibiotikaresistenzen. Für ihren vierten Roman «das alles hier, jetzt.» erhält sie 2020 den mit 30'000 Franken dotierten Schweizer Buchpreis und lässt namhafte Mitkonkurrenten wie Charles Lewinsky und Dorothee Elmiger hinter sich. In der Begründung der Jury heisst es: «Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen.»

Anna Stern, «das alles hier, jetzt.», Elster & Salis

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