Das ist ein Gedicht! Diese Aussage ist mehr als eine simple Feststellung, sie ist ein Lob – meist beim Essen eines köstlichen Gerichts geäussert. Ein Gedicht ist also etwas Gutes und etwas zum Einverleiben. Und genauso sollten wir mit gut geschriebener Poesie umgehen: Sie geniessen und verinnerlichen durch Auswendiglernen.
Der frühere Zürcher Germanistikprofessor Paul Michel (76) bezeichnete Verse und Strophen, die im Kopf sind, als «mentales Sugus» – Bonbons, an denen man von Zeit zu Zeit lutschen kann und die süsse Momente bescheren. Folgende gereimte Zeilen aus längeren Gedichten sollen Dich auf den Geschmack bringen.
Da läuft es einem kalt den Rücken runter: «Winternacht» ist das beste Gedicht des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller (1819–1890). Und nachher geht es gespenstisch weiter: Das lyrische Ich steht auf dem gefrorenen See und sieht, wie von unten eine Nixe am Seebaum hochsteigt – aber das harte Eis trennt sie. Very spooky!
«Wohin du fliehst, bleibt mir, mein Ziel dir unerahnt. / O dich hätt ich geliebt – o dich, die es erkannt!»: Auch der grosse französische Poet Charles Baudelaire (1821–1867) besingt in «À une Passante» eine verpasste Liebe – doch er ist nicht nachts auf dem See, sondern sitzt in einem Pariser Café, an dem die Frau vorbeiläuft. Oh là là!
«So geht das Morgenrot in den Tag. / Nichts Goldenes hat Bestand»: Was in der deutschen Übersetzung profan klingt, ist im Originalgedicht «Nothing Gold Can Stay» des US-Dichters Robert Frost (1874–1963) reine Sprachmelodie – nicht umsonst wird Frost im Jim-Jarmusch-Film «Down by Law» (1986) als besten amerikanischen Autor gepriesen.
«Nur im Wind so lose Laute» – in diesem Vers aus «Träumerei» hört man die Luft durch die Worte pfeifen. Wenn der Schweizer Lyriker Alexander Xaver Gwerder (1923–1952) länger gelebt hätte, wäre er fürs Gedicht das geworden, was hierzulande Dürrenmatt und Frisch für Theater und Roman waren, sagte der Germanist Peter von Matt (86) einmal über Gwerder.
«Siebenmal mein Körper» heisst das witzige Poem des deutschen Dichters Robert Gernhardt (1937–2006), aus dem diese Strophe ist. Siebenmal spielt er die Trennung zwischen Körper und Geist durch – bis es zum Bruch kommt. Gernhardt, eine Art Wiedergeburt von Wilhelm Busch, ist ausgerechnet wegen körperlicher Leiden viel zu früh gestorben.
«Das Einzige, was ich wusste, wie man es macht, / War weiterzumachen, wie ein Vogel, der flog / Verheddert im Blau.» Mit «Tangled Up In Blue» holt der amerikanische Singer-Songwriter und Literaturnobelpreisträger Bob Dylan (82) die Lyrik aus ihrem Nischendasein und macht sie zum Massenphänomen – sie steckt in jedem Song vom Schlager bis zum Rap.
Der Wasserhahn, der tropft, das Besteck, das klappert: Die Berner Schriftstellerin Ariane von Graffenried (45) verdichtet in «D Frou Bovary de Porrentruy» Französisch mit Dialekt. Zu erleben ist sie live am Samstag, 27. Januar, um 21 Uhr im Literaturhaus während des 20. Internationalen Lyrikfestivals Basel.
20. Internationales Lyrikfestival Basel, 25. bis 28. Januar, www.lyrikfestival-basel.ch