Bei diesem Paar ist manches ungereimt: Eine Frau lebt mit Freund und Katze im New Yorker Stadtteil Brooklyn und hat sexuelle Sehnsüchte; Sehnsüchte, die sie mit ihm nicht ausleben kann. Deshalb verlässt sie ihn, baut eine lesbische Beziehung zu einer Lektorin auf. Doch ist dies tatsächlich eine Befreiung aus Fesseln oder einfach eine neue Bindung mit neuen Zwängen?
«Couplets» heisst der hochgelobte Erstling der New Yorker Schriftstellerin Maggie Millner (32). «Ein Buch, das den Verstand verführt», schrieb «The New York Times Book Review» nach der letztjährigen Veröffentlichung in den USA. Und «The Los Angeles Review of Books» doppelte nach: «Dieses Buch zu lesen, ist wie die Berührung eines Liebhabers.»
Nun liegt Millners «Couplets» in deutscher Übersetzung unter dem Titel «Paare» vor. Das Besondere an dieser «Liebesgeschichte», wie sie im Untertitel heisst: Sie ist nicht in profaner Prosa, sondern in Paarreimen geschrieben. Wie Liebende in einer Paarbeziehung schmeicheln sich Wörter anderen Wörtern an und gehen im Gleichklang: Reim dich oder ich fress dich!
«Ich dachte, sie fände mich boring, / denn sie war queer und Lektorin», steht in «Paare» über die erste Begegnung der beiden Frauen nachts in einer Bar. Und später: «Durch den Nebel der Verehrung zu ihr vorzudringen / dauerte Monate. Ich fürchtete, vor allen Dingen, / sie könnte den Fetisch durchschauen, / mein Anderssein sehen und einfach abhauen.»
Formale Strenge und inhaltliche Zügellosigkeit
Zwingend und bestechend wirkt das Buch durch die Reime, ohne dass dadurch der Lesefluss stockt. Im Gegenteil: Manche Reime wie «masturbiert» auf «probiert», «quietschfidel» auf «Gleitgel» oder «generell» auf «sexuell» wirken geradezu stringent und treiben die Handlung voran. Formale Strenge und inhaltliche Zügellosigkeit passen hervorragend zusammen.
Millner ist mit ihrem Buch nicht einzigartig: Letzten Herbst veröffentlichte der Schweizer Schriftsteller und Kabarettist Ralf Schlatter (52) einen «Roman in Reimen»: «Des Reimes willen Henk». Die Titelfigur, ein Taugenichts auf Selbstfindungstrip, hat seinen Namen tatsächlich wegen des Reims, denn seine Mutter sagte: «Ach Henk, ach Henk, mit dir, da hab ich das Geschenk.»
Auch bei Schlatter geht es ordentlich zur Sache, denn nach seinem 50. Geburtstag finden Henk und seine Jugendliebe Trix endlich zusammen: «Ein, zwei Schritte Richtung Bett und nieder mit Getöse, / Kleider schwupps vom Leib, es fängt gleich an zu wackeln, aber wie! / Und ich verzieh mich eine Runde, seid mir bitte nicht zu böse, / solches ist für Lesende am schönsten in der Fantasie …»
Schlatter – zusammen mit Anna-Katharina Rickert (50) das poetische Kabarettduo schön&gut – reimte schon immer gerne. Und er zeigt im Buch sein ganzes Können, wenn er «wie sie» auf «easy» reimt, «Delirium» auf «sah sich um», «Buster Keaton» auf «zwei da bieten» oder «Seiltanzballerinas» auf «Brangelinas» – punktgenaue Landungen, die wie Pointen bei Witzen wirken.
Ein Versroman gewann 2020 den Deutschen Buchpreis
«Selig die Zeiten, als in der Hochlyrik noch unbekümmert drauflosgereimt werden durfte! Heute wird nur noch in komischer Lyrik gereimt», moniert das Satiremagazin «Titanic» in seiner Kritik zu «Des Reimes willen Henk», zeigt sich erstaunt über diesen stimmigen Roman und zieht das Fazit: «Sehr erfreulich und erfrischend, das Ganze, ein Dichtersmann, der Schlatter, das Reimtalent, das hatter.»
Reime im Roman, Prosa im Gedicht – die literarischen Gattungen bedienen sich gegenseitig ihrer Mittel. Und Epik, Lyrik und Dramatik suchen seit geraumer Zeit neue Wirkungsfelder: Romaninhalte kommen auf Bühnen; auswendig gelernte Theaterstoffe gehen in Köpfe, wo früher Gedichte waren; Lyrik erzählt nun – gereimt oder ungereimt – lange Geschichten und füllt dicke Bücher.
Versromane sind im Vergleich zu den schwindsüchtigen Lyrikbändchen gewichtige Bücher: «Paare» (214 Gramm) und «Des Reimes willen Henk» (196 Gramm) können es mit «Das kleine Haus am Sonnenhang» (274 Gramm) von Alex Capus (62) und «Die Entflammten» (316 Gramm) von Simone Meier (54) aus der aktuellen Schweizer Belletristik-Bestseller-Liste durchaus aufnehmen.
Versromane sind in den letzten Jahren auch in die Kränze gekommen: So war 2020 das englischsprachige Original von «Verheizte Herzen» der irischen Autorin Sarah Crossan (43) auf der Shortlist des Irish Book Awards; und im selben Jahr gewann die deutsche Autorin Anne Weber (59) für «Annette, ein Heldinnenepos» den Deutschen Buchpreis für den besten deutschsprachigen Roman des Jahres.
Am Anfang der Literatur war eine Erzählung in Versen
Auch wenn Versromane momentan en vogue zu sein scheinen, so haben sie dennoch eine lange Tradition. Sie sind sogar älter als die seit dem 17. Jahrhundert gebräuchliche Bezeichnung Roman, unter der man fortan eine in Prosa abgefasste Schrift verstand. Bis heute haben sich Romane zur wirtschaftlich bedeutendsten literarischen Gattung entwickelt.
Den Versroman gab es allerdings bereits im Mittelalter: Eines der berühmtesten Werke aus dieser Zeit ist die Ritter-Geschichte «Parzival», die der aus Franken stammende Dichter Wolfram von Eschenbach (1170–1220) zwischen den Jahren 1200 und 1210 in rund 25’000 paarweise gereimten Versen verfasste: «Wenn Zweifel Herzens Nachbar wird, / Die Seele sich in Leid verirrt.»
Und der Italiener Dante Alighieri (1265–1321), der mit der «Göttlichen Komödie» (1321) die wirkungsvollste gereimte Verserzählung schuf, liess den sagenumwobenen griechischen Dichter Homer in seinem Werk auftreten. Denn letztlich geht alles auf seine in Hexametern geschriebene Geschichten «Ilias» und «Odyssee» (8. Jahrhundert v. Chr.) über den Trojanischen Krieg zurück.
Auch wenn man diese Urwerke der Literatur damals nicht so bezeichnete, kann man mit Fug und Recht behaupten: Am Anfang war der Versroman.