Herr Muschg, haben Sie an Ihrer Atemtechnik geübt?
Nötig hätte ich es schon, als Pfeifenraucher. Aber warum fragen Sie?
90 Kerzen auf einer Geburtstagstorte auszublasen, braucht eine starke Puste – heute, am 13. Mai, feiern Sie dieses runde Jubiläum.
Hoffentlich kommt niemand auf die Idee, mich mit einem Christbaum zu verwechseln. Eine Kerze würde mir reichen – an der Puste soll es dann nicht scheitern. Und die Torte müsste ich als Diabetiker sowieso verschenken.
Was wünschen Sie sich beim Ausblasen?
Keinen Gedanken daran, dass ich nach der Statistik schon überfällig bin.
Halten Sie ein hohes Alter für erstrebenswert?
Ich erlebe es zum ersten Mal und habe deshalb keine Vergleiche. Aber ich bin dankbar, dass es mir so weit gereicht hat. Und gegen noch ein paar geschenkte Jahre habe ich nichts einzuwenden.
Wie lässt sich ein hohes Alter am besten erreichen?
Ich habe kein Rezept, mache kein Yoga, bin weder Fitness-Freak noch Veganer. Hinterher scheint es mir das Entscheidende, dass man jede Lebensphase als einmalig verstehen lernt und zugleich als vorübergehend.
Wie verbringen Sie den heutigen Tag?
Ruhig. Vorher veranstalten Freunde eine Feier in Berlin, danach gab es eine im Literaturhaus Zürich, zu der alle Leserinnen und Leser eingeladen waren.
Sie sind seit zehn Jahren Ehrenbürger Ihres Wohnorts Männedorf. Gibt es einen Anlass der Gemeinde?
Das weiss ich nicht. Vielleicht sind sie ein wenig verschnupft, weil meine Frau und ich unsere letzte Ruhestätte – wie man so schön sagt – in Zürich gemietet haben. Sie liegt am ersten Weg, den ich als Kind zu Fuss geschafft habe und später mit meinem ersten Velo ans Gymnasium, Tag für Tag.
Wie war Ihre Kindheit?
Da war ich behütet – nur zu sehr. Mein Vater, Witwer und pensionierter Lehrer, heiratete ein zweites Mal – sie wurde meine Mutter. Er hat sie nicht in sein strenges Christentum mitnehmen können. Die gelernte Krankenschwester hätte einen gnädigeren Gott gebraucht. Bevor Vater starb – ich war 13 Jahre alt –, hat sie sich in einen sogenannten Nervenzusammenbruch geflüchtet und blieb fast drei Jahre abwesend: in der Psychiatrie.
Vater tot, Mutter in der Psychiatrie. Kümmerten sich dann Ihre vier älteren Halbgeschwister aus Vaters erster Ehe um Sie?
Nein, die haben sich von unserem Vater brüsk verabschiedet, nachdem er meine Mutter geheiratet hatte. Aber ich hatte einen fürsorglichen Nachbarn, der sich um mich kümmerte. Erst kam ich zwei Jahre in ein frommes Internat im Prättigau – ein starkes Stück für ein Heimwehkind, das es nicht fertiggebracht hatte, auch nur eine einzige Nacht ausser Hauses zuzubringen. Ich versuche gerade, schreibend auszuloten, was mit mir damals passiert ist.
Gibt es einen Roman?
Eine Erzählung. Sie soll nächstes Frühjahr erscheinen. Ein starker Grund, noch ein Jahr weiterzuleben.
Adolf Muschg kommt 1934 in Zollikon ZH zur Welt. In Zürich und Cambridge studiert er Germanistik, Anglistik und Philosophie und schliesst mit einer Doktorarbeit ab. Es folgt eine Anstellung als Gymnasiallehrer, bevor er eine Hochschullaufbahn beginnt – bis 1999 ist er Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Nach seiner Emeritierung präsidiert er die Akademie der Künste in Berlin. Als Schriftsteller gelingt ihm bereits mit dem Debütroman «Im Sommer des Hasen» (1965) der Durchbruch – fortan gehört er zu den bedeutendsten Autoren der Schweiz. Für seine Bücher erhält er zahlreiche nationale und internationale Preise, 1994 den renommierten Georg-Büchner-Preis für sein Hauptwerk «Der Rote Ritter» (1993). Adolf Muschg hat drei Söhne und ist in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet. Das Paar lebt in Männedorf ZH.
Adolf Muschg kommt 1934 in Zollikon ZH zur Welt. In Zürich und Cambridge studiert er Germanistik, Anglistik und Philosophie und schliesst mit einer Doktorarbeit ab. Es folgt eine Anstellung als Gymnasiallehrer, bevor er eine Hochschullaufbahn beginnt – bis 1999 ist er Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Nach seiner Emeritierung präsidiert er die Akademie der Künste in Berlin. Als Schriftsteller gelingt ihm bereits mit dem Debütroman «Im Sommer des Hasen» (1965) der Durchbruch – fortan gehört er zu den bedeutendsten Autoren der Schweiz. Für seine Bücher erhält er zahlreiche nationale und internationale Preise, 1994 den renommierten Georg-Büchner-Preis für sein Hauptwerk «Der Rote Ritter» (1993). Adolf Muschg hat drei Söhne und ist in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet. Das Paar lebt in Männedorf ZH.
Hoffen Sie, den 100. Geburtstag zu erleben?
Ja, wenn «erleben» dafür noch ein angebrachtes Wort ist. Ich kann auch Kafka in seinem letzten Stadium nachfühlen, wenn er seinem ärztlichen Freund sagte: «Töten Sie mich, sonst sind Sie ein Mörder.»
Sind Sie bei Exit?
Ja, aber da bin ich vermutlich sehr schweizerisch – man versichert sich. In meinem Fall: Ich bin dagegen, dass über Tod oder Leben ein Apparat entscheidet, eine Weltanschauung, ein Kosten-Nutzen-Rechner. Ich reserviere mir die Freiheit, dafür selbst und allein zuständig zu sein, auch wenn sie wohl eine Illusion ist.
Das Geburtsdatum kennen wir. Würden Sie gerne auch das Todesdatum kennen?
Nein. Ich traue diesem Augenblick eine Ausdehnung zu, die Zeit und Raum überschreitet. Da hat die Uhr ausgedient, meine Vorstellungskraft auch – ich will diesen Tod erleben. Für mich ist Leben, auf welcher Stufe immer – Singvogel, Bakterium oder Homo sapiens – ein unglaubliches Ereignis.
Staunen Sie jeweils über die Natur draussen?
Die Vögel sind mir gerade besonders lieb. Oft höre ich einer Amsel zu – sie singt nicht nur, sie lernt singen, erfindet sich aus der Antwort der Konkurrenz immer neue Lieder.
Doch der Mensch zerstört die Umwelt immer mehr.
Ich meine, das Wort Umwelt ist ja schon ein Selbstbetrug. Wir sitzen nicht im Theater und auf der Bühne geht etwas ab, was uns nicht passt. Wir selbst sind dieses Theater, die Bühnenhandlung ist unser Handeln und Unterlassen, und wenn das Theater aus ist, sind wir weg.
Haben Sie Hoffnung?
Der Mensch ist ein sehr junger Affe: Die paar Hunderttausend Jahre, in denen der sogenannte Homo sapiens schon da ist, sind ein Klacks in kosmischen Zeitverhältnissen. Und wir haben es in dieser kurzen Zeit fertiggebracht, unsere eigene Lebensgrundlage – dieses Wunder von einem Planeten – zu ruinieren.
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Sind Sie froh, dass Sie schon so alt sind und die Konsequenzen nicht mehr erleben müssen?
Das wäre nicht nur schäbig, sondern kurzsichtig. Und wäre es auch, wenn ich keine Söhne und Enkelinnen hätte, denen ich ein gutes Leben nicht nur gönne, sondern wünsche.
Sie haben die Geburt von drei Söhnen erlebt. Wie hat das Ihre Sicht aufs Leben verändert?
Ich war dabei – bei allen. Das war ein einschneidendes Erlebnis. Manchmal wäre ich gerne ein besserer Vater gewesen. Dafür ist das Einzelkind, das ich bin und bleibe, schlecht ausgerüstet. Ich beneide meine Söhne nicht um die Mucken und Macken ihres Vaters. Er war ja auch nicht mehr der Jüngste, als sie zur Welt kamen.
Waren die Mucken und Macken auch ausschlaggebend für das Ehe-Aus mit den ersten zwei Frauen, den Müttern Ihrer Kinder?
Ich bin in keiner dieser Ehen unglücklich gewesen. Und wenn ich glaubte, einer neuen Liebe gleich wieder eine Ehe schuldig zu sein, hatte das immer auch etwas Unreifes.
Seit 1991 sind Sie mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet – Ihre dritte Ehe ist die bisher dauerhafteste. Was ist das Geheimnis?
Von meiner Halbschwester Elsa Muschg habe ich sehr früh den Japan-Floh ins Ohr gesetzt bekommen: In den 1920er-Jahren begleitete sie als Gouvernante eine Winterthurer Kaufmannsfamilie auf einer Weltreise, die sie nach Kyoto führte.
Diese Eindrücke liess sie dann in ihre Kinderbücher einfliessen.
Und wie ich die verschlang! «Hansi und Ume» spielte in unserem gemeinsamen Elternhaus und zur grösseren Hälfte im Wunderland Japan. Da gab es ein zweites Elternhaus – es lag auch noch am Schulweg meiner Ehefrau Atsuko. Es gab für mich Heimwehkind eine Heimat in der fernsten Fremde, ein Ume-Haus!
Dieses Jahr feiert Ihr in Tokio Erstgeborener Konrad Muschg ebenfalls einen runden Geburtstag, nämlich den 60. Mögen Sie mehr die eigenen oder die Geburtstage anderer?
Im Kern mag ich die eigenen gar nicht, bin über die Geschenkerwartung hinaus und vergesse die Gratulation an andere zu leicht. Der 90. ist ein spezieller Fall: Man feiert ihn nicht allzu gerne, er ist meist der letzte runde Geburtstag vor dem Trauerfall.
Sie sind heute dem Tod näher als der Geburt. Machen Sie sich mehr Gedanken über das Ende?
Lieber über das Definitive der Grenze. Ich bin nicht der Christ, den sich mein Vater gewünscht hat, auch wenn ich in die Kirche zurückgekehrt bin, weil sie für mich Teil unserer Kultur ist. Aber wenn ich über den Tod nachdenke, dann denke ich über das Leben nach: Es ist einem nie kostbarer, als wenn man wissen muss: Ich sterbe.
Sie sind vor sieben Jahren wieder der evangelischen Kirche beigetreten. Hilft Ihnen das, den nahenden Tod zu akzeptieren?
Kurz gesagt: Nein. Wir brauchen kein ewiges Leben, um ein befristetes zu ertragen, es voll und ernst zu nehmen. Dass uns nach dem Tod ein allmächtiger Vater erwartet, ist ein Kindertraum, dass er über uns Buch geführt hat, eine Kinderangst.
Beten Sie?
Ja. Aber ich stelle mir dabei keinen Empfänger vor. Das geht, sogar mit dem Unservater. Der Kern meiner Religion ist Dankbarkeit: dass ich ein Teil des Wunders sein durfte – immer noch darf –, das man Leben nennt.
An die Geburt erinnern wir uns nicht, über den Tod können wir nur spekulieren. Weshalb denken wir trotzdem über Lebensanfang und -ende nach?
Deshalb, würde ich meinen: Auf unsere Grenzen stossen wir jeden Tag; in der Religion sind sie heilig.
Anfang oder Ende – was mögen Sie mehr?
Der Anfang ist naiv und grandios. Der Schluss ist schwierig, aber heilsam, weil er die Grenzen bestätigt – nur nicht gerade da, wo wir sie angenommen haben. Im guten Fall bedeutet das: Wir sind gewachsen, und wäre es durch Kleinerwerden.
Wenn Sie an einem Buch arbeiten, ist da der Anfang oder das Ende aufwendiger?
In der Regel täusche ich mich über die Tragfähigkeit guter Anfänge. Ich habe gerade ein Manuskript zum ersten Mal fertig – und lese es jetzt wieder von vorn. Erst das Wiederlesen zeigt mir, was aus einem Vorsatz geworden ist: Der eigene Text gibt mir die Chance, nachzutragen, was mir jetzt fehlt, und das Überflüssige zu streichen. Erst diese Revisionen machen für mich ein Buch.
Welches Werk erachten Sie als Ihr bestes?
Sagen wir: Das anspruchsvollste, was noch kein Gütezeichen ist, war «Der Rote Ritter». Der Parzival-Stoff begleitet mich seit meinen Studien. Wolfram von Eschenbach hat im Mittelalter den Stoff eines französischen Dichters nacherzählt; jetzt erzähle ich seinen Stoff nach und erlebe, wo das möglich ist und wo nicht.
Es ist erstaunlich, dass Sie sich mit einem Mittelalterstoff abgegeben haben: Sie waren zeitlebens von der Antike geprägt. Weshalb haben Sie keinen neuen «Odysseus» geschrieben wie James Joyce?
Gute Frage, aber warten Sie ab, ich fürchte, er erscheint in meinem neuen Buch. So dick wie «Der Rote Ritter» wird es nicht, versprochen. Damals war das Christentum an der Reihe – jetzt Gevatter Tod, in vielerlei Verkleidung.
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