Herr Muschg, provozieren Sie gern?
Wie kommen Sie darauf?
In Ihrem neuen Roman «Aberleben» steht der Satz: «Gegen Auschwitz hilft nur Vergessen.» Der sorgt wieder für Aufregung!
Das ist nicht mein Satz. Aber ich habe ihn genau so von einem Psychoanalytiker gehört, der jüdisch war, wie meine Romanfigur. Sie drückt ihre Verzweiflung über die Rituale der Betroffenheit aus. Wer lesen kann, weiss, dass dieses «Vergessen» zugleich das Gegenteil bedeutet.
Dieses Frühjahr sorgten Sie bereits mit einem Auschwitz-Vergleich für Empörung.
Von einem Vergleich war keine Rede, sondern einem Zusammenhang: der gemeinsamen Wurzel des Abschreibens einer Menschengruppe und ihrer physischen Vernichtung.
Wörtlich sagten Sie in der SRF-Sendung «Sternstunde Philosophie»: «Die Cancel Culture, die wir heute haben, … das ist im Grunde eine Form von Auschwitz.»
Und nicht weniger wörtlich sagte ich danach, Cancel Culture sei Ausdruck des Unvermögens, mit den eigenen Widersprüchen umzugehen. Wer hören kann, hat das gehört. Ein Zürcher Akademiker hat es vorgezogen, mir dafür einen Shitstorm zu bescheren und genau damit ein Beispiel für das zu liefern, wovon ich zu reden versuchte.
Aber warum erwähnen Sie Auschwitz? Mike Müller twitterte danach: «Wie viele Menschen wurden jetzt eigentlich durch diese ‹Cancel Culture› vergast?»
Der demagogische Satz ist unter seiner Würde. Vor 25 Jahren schrieb ich den Traktat «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt» und bezog damit Prügel von der andern Seite, die glauben wollte, mit der Neutralitätspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg sei sie auch moralisch fein raus gewesen.
Weshalb weigerten Sie sich partout, Ihre Auschwitz-Aussage zurückzunehmen?
Dafür gab es keinerlei Anlass: Der Moderator hatte mich genau verstanden. Erst am nächsten Tag verlangte der verschreckte Sender eine Erklärung von mir und hatte dann nicht den Mut, sie zu veröffentlichen. Da sprang die «Weltwoche» in die Lücke.
Bereits 2010 sorgten Sie für Aufregung mit einer Relativierung der pädophilen Übergriffe an der deutschen Odenwaldschule.
Ich war und bleibe befreundet mit Hartmut von Hentig – der grosse Pädagoge gehört zu den Leitfiguren meines Lebens. Nur hatte er das Schicksal, seinerseits mit Gerold Becker verbunden zu sein ...
... dem 2010 in einem Zeitungsartikel ehemalige Odenwaldschüler pädophile Übergriffe vorwarfen.
Ich bleibe überzeugt, dass Hentig sich nicht vorstellen konnte, was sein Gefährte als Leiter der Odenwaldschule angerichtet hatte. Mir selbst stand damals eine Operation bevor, und vorher wollte ich Hentig noch ein Zeichen senden: Sie stehen nicht allein.
Sie relativierten aber Beckers Übergriffe.
Nein. Auch Hentig hat sich – schwer genug – zum Wort «Verbrechen» durchgerungen. Er hat mehr verloren als einen Lebensgefährten. Aber er hat ihn nicht fallen lassen, sondern bis zu seiner letzten Stunde gepflegt.
Auch Sie scheinen ein fürsorglicher Menschenfreund zu sein, werden aber wegen solcher Aussagen von Menschen nicht immer gemocht.
Muss ich denn immer gemocht werden?
Und dass Sie Leute mit Ihren Aussagen verschrecken: Kümmert Sie das auch nicht?
Dieses Verschrecken dauert nur bis zum nächsten Aufreger. Davon leben die sozialen Medien.
Sie sind weder bei Twitter noch auf Facebook.
Für Suchtverhalten reicht mir die Pfeife. Und mit 87 wird einem die Zeit zum Verlieren zu schade.
Doch in den sozialen Medien findet ein Austausch statt.
Spricht man denn miteinander? Man macht sich doch nur geltend. Man zelebriert die eigene Sicht der Welt, und wenn sie ins Leere fällt, verstärkt man den Lärm. Damit schafft man Follower, aber keine Öffentlichkeit.
Durch Ihre Aussagen lösen Sie immerhin öffentliche Debatten aus.
Es gibt einen Unterschied zwischen Debatte und Shitstorm. Ich sehe jetzt Mike Müller weniger gern, aber so leicht kriegt er mich nicht zum Feind. Die Frage bleibt doch immer: Was fehlt mir, dass ich Feinde nötig habe?
Viele scheinen heute Feinde nötig zu haben: Verschwörungstheoretiker bei uns oder Trump-Anhänger in den USA blicken feindselig auf die Gesellschaft. Wie kann man die wieder einbinden?
Dafür müsste man bereit sein, einander zu sehen und zu hören, statt Sprechblasen steigen zu lassen oder Knallbonbons zu werfen.
Sie waren kürzlich bereit dazu: Sie wollten Jugendliche zur Rede stellen, die Ihre japanische Ehefrau rassistisch beschimpften. Das ist nicht geglückt.
Bei Buben, die einen Menschen vom Velo herab disqualifizieren, war die Chance dafür gleich null.
Sie bekamen dann von Klassenkameradinnen dieser Angreifer Blumen, was Sie in der «Zürichsee-Zeitung» verdankten.
Die Pointe der Geschichte kam erst hinterher: Der Lehrer stellte nämlich mit einem Brief richtig, die Blumen seien gar keine persönliche Wiedergutmachung gewesen, sondern eine Goodwill-Aktion für die ganze Nachbarschaft.
Waren Sie desillusioniert?
Nein, eigentlich gefiel mir das. Die Fortsetzung machte eine schöne Geschichte erst zur wahren. Und die ist immer banaler, als wir uns gern vorstellen. Das ist gut gegen die eigene Eitelkeit.
«Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden / Was dieser heute baut, reisst jener morgen ein», dichtete einst Andreas Gryphius. Ist die Welt zu sehr auf sich bedacht angesichts der Umweltzerstörung?
Mein Vater hätte gesagt: «Die Welt ist verrückt.» Sie findet ihr Gleichgewicht mit der Natur nicht, das früher gar kein Thema war. Die Natur war zu übermächtig, und für sein eigenes Fortkommen war dem Menschen jedes Foul erlaubt: «Machet euch die Erde untertan!» Die Entdeckung ist neu, dass wir uns damit ins eigene Fleisch schneiden.
Und wir betreiben Pflästerlipolitik mit Hilfe der Technik.
Doch plötzlich wird sie selbst Teil des Problems, das sie lösen sollte. Und selbst wenn wir aus der Falle grenzenlosen Wachstums aussteigen wollen, bleibt die Frage, ob wir es wollen können. Zu sehr hängt alles daran, was wir Wohlstand nennen. Dass der Mensch selbst Teil der Natur sein soll, ist eine grosse narzisstische Kränkung. Darum reden wir ja immer noch von Umwelt, als wäre die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlage eine Art Zuschauersport.
Hilft die Digitalisierung?
Hat unser neuestes Werkzeug, das digitale, nicht dafür gesorgt, dass Ort und Zeit, der Grundstoff unserer Existenz, ihre Verbindlichkeit verlieren? Wir können der Gegenwart jederzeit in virtuelle Welten ausweichen. Das Netz kann viel – aber uns tragen kann es nicht, wenn sich unsere natürlichen Grenzen zurückmelden. Von der Vergänglichkeit gibt es keinen Dispens.
Um den Kampf gegen die Vergänglichkeit geht es in «Aberleben».
Im Titel steckt «abermals, wiederholt» darin. Im Roman geht es darum, dass einer sich ein zweites Leben verschaffen will, weil sein erstes gesundheitlich gefährdet ist.
Verspürten Sie während der fragilen Zeit der Pandemie manchmal einen solch trotzigen Lebenswillen?
Den Willen ja – der Trotz ist in meinem Alter schon deutlich gedämpft. Ich habe das Buch vor der Pandemie begonnen, aber dann passte sie nur zu gut zum biochemischen Unsterblichkeitsprojekt, das darin vorkommt.
Am Schluss kommt es zu einem Virus-Ausbruch. Der erste Corona-Roman!
Ich sage lieber: Die Romanpersonen begegnen einem Parasiten, der sie vor unbequeme Fragen stellt.
Zum Beispiel?
Ist Homo, genannt sapiens, nicht selbst ein Parasit? Hat er sich Covid-19 nicht aus seinem Umgang mit Tieren zugezogen, die er als Schlachtware oder Labormaterial behandelte statt als Mitgeschöpfe?
Kämpften Sie mit dem Schreiben des Romans selber gegen die Vergänglichkeit an?
Eigentlich ist «Aberleben» ja ein Pseudonym für Kunst – und der eitlen Hoffnung, darin weiterzuleben, jedenfalls für einige Leserinnen und Leser.
Auch ein Weiterleben im christlichen Sinn? Denn Sie sagten kürzlich in einem TV-Interview: «Das Buch ist wider meinen Willen ein religiöses Buch geworden.»
Wenn man eine religiös imprägnierte Kindheit hatte wie ich, kann man sich davon nie mehr ganz reinwaschen. Der Roman experimentiert sogar mit einer Variante der Auferstehung.
2017 sind Sie wieder der reformierten Kirche beigetreten. Ist das Buch eine Folge davon?
Ich glaube nicht. Aber vielleicht ist es die Leere der Kirchen, die mich angezogen hat. Das Evangelium ist heimatlos geworden: Das stimmt zur Botschaft der Bergpredigt. Wir sind von ihr nie weiter entfernt gewesen, astronomisch weit. Das macht sie zum Stern, der mir nun erst einzuleuchten beginnt. Doch dafür brauche ich kein Glaubensbekenntnis, keinen Sohn Gottes, keine Jungfrauengeburt, auch kein Leben nach dem Tode.
Das hört der Pfarrer aber nicht gern! Weshalb sind Sie dann in der Kirche?
Weil mir zu viel fehlen würde, wenn die religiöse Dimension unseres Leben ganz ausfiele.
Sie sind 87. Wie beschäftigen Sie sich mit dem nahenden Tod?
Indem ich meine Grenzen als Wunder erlebe, in allen Geschöpfen, auch solchen der Kunst. Den eigenen Tod integrieren kann ich nicht. Aber erleben möchte ich ihn noch.
Zelebrieren Sie die Jahreszeiten als Zeichen der Vergänglichkeit?
Solange wir noch welche haben! Was für ein Privileg, Mitgeschöpfen beim Dasein und Wachsen zuzusehen – aber auch ihr Verschwinden hinzunehmen und ihr Wiederkommen zu feiern. Nichts an unserem Biotop ist selbstverständlich und doch: Wie unerschöpflich ist die Natur in der Fülle ihrer Vergänglichkeit!
Adolf Muschg (87) ist der Doyen der Schweizer Literaten, sein Wort hat Gewicht. Umso mehr verstört er immer mal wieder Freund und Feind mit seinen Aussagen. Muschg ist promovierter Germanist und war bis 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Zu seinem umfangreichen literarischen Werk gehören Romane wie «Im Sommer des Hasen» (1965), «Der Rote Ritter» (1993) oder seine Neuveröffentlichung «Aberleben» (2021). 1994 erhielt er den renommierten Georg-Büchner-Preis. Muschg ist in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet und lebt mit ihr in Männedorf ZH.
Adolf Muschg (87) ist der Doyen der Schweizer Literaten, sein Wort hat Gewicht. Umso mehr verstört er immer mal wieder Freund und Feind mit seinen Aussagen. Muschg ist promovierter Germanist und war bis 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Zu seinem umfangreichen literarischen Werk gehören Romane wie «Im Sommer des Hasen» (1965), «Der Rote Ritter» (1993) oder seine Neuveröffentlichung «Aberleben» (2021). 1994 erhielt er den renommierten Georg-Büchner-Preis. Muschg ist in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet und lebt mit ihr in Männedorf ZH.
Adolf Muschg, «Aberleben», C. H. Beck