Schriftsteller Adolf Muschg (85) zur Corona-Krise
«Noch nie war die Zumutung grösser, sich mündig zu verhalten»

Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg (85) über sich als Risikofall, die Leistung der Behörden und die erhoffte Rückkehr des Handschlags.
Publiziert: 20.03.2020 um 22:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.03.2020 um 15:20 Uhr
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Der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg gehört in der Corona-Krise mit 85 Jahren zur Risikogruppe.
Foto: Jessica Keller
Interview: Daniel Arnet

BLICK: Herr Muschg, wie geht es Ihnen?
Adolf Muschg:
Ganz gut. Ich bin in der Doppelrolle eines Hochrisikofalls einerseits und eines Begünstigten andererseits – solche Widersprüche sind typisch für den Ausnahmezustand, den keiner kommen sah.

In welcher Beziehung gehören Sie zu den Begünstigten?
Ich bin sowieso Heimarbeiter und habe nicht mehr allzu viel Zukunft zu verlieren. Meine liebe Frau übernimmt den nötigsten Verkehr mit der Aussenwelt.

Der Professor unter den Literaten

Adolf Muschg (85) gehört neben Peter Bichsel (84) zur alten Garde der Schweizer Schriftsteller – 1969 gründeten sie zusammen mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt die Gruppe Olten. Muschg ist promovierter Germanist und war bis 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Zu seinem umfangreichen literarischen Werk gehören Romane wie «Im Sommer des Hasen» (1965), «Der Rote Ritter» (1993) oder «Heimkehr nach Fukushima» (2018). 1994 erhielt er den renommierten Georg-Büchner-Preis. Muschg ist in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet und lebt mit ihr in Männedorf ZH.

Adolf Muschg (85) gehört neben Peter Bichsel (84) zur alten Garde der Schweizer Schriftsteller – 1969 gründeten sie zusammen mit Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt die Gruppe Olten. Muschg ist promovierter Germanist und war bis 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Zu seinem umfangreichen literarischen Werk gehören Romane wie «Im Sommer des Hasen» (1965), «Der Rote Ritter» (1993) oder «Heimkehr nach Fukushima» (2018). 1994 erhielt er den renommierten Georg-Büchner-Preis. Muschg ist in dritter Ehe mit der Japanerin Atsuko Kanto verheiratet und lebt mit ihr in Männedorf ZH.

Sie sind 85. Haben Sie eine so gespenstische Ruhe auf den Strassen schon einmal erlebt?
In der Kindheit während des Zweiten Weltkriegs fuhren kaum mehr Autos, und wir konnten, als kleine Kriegsgewinnler, die leeren Strassen als Spielplätze übernehmen. Diesen Freiraum haben die Kinder heute gerade nicht. Und die Diktatur des Virus hat sie auch noch zu Gefährdern gemacht. Nähe verlangt Abstand: Das ist die verkehrte Welt der Corona-Krise.

Die jüngere Generation wird stark eingeschränkt, obwohl sie kaum ernsthaft erkrankt. Ist das verhältnismässig?
In Notsituationen können wir nicht verhältnismässig sein, aber wir müssen die Verhältnisse im Kopf behalten. Die jungen Leute, die zu Beginn sagten, das betreffe sie nicht, werden nun beim Ohr genommen: Das ist jetzt notwendig. Aber es bleibt auch verrückt. Wir sollten uns an diese Schule nicht gewöhnen.

Die Hand von Vater Staat greift durch.
Irgendwie bin ich gerührt, aber auch misstrauisch. «Und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen» – dieser Satz aus der Präambel der Bundesverfassung klingt zu schön, um wahr zu sein. Aber «Volk» und «Staat» sind zweierlei. Noch nie war die Zumutung an die belagerte Gesellschaft grösser, sich mündig zu verhalten.

Wie schlagen sich Ihres Erachtens die Behörden?
Achtbar. Es ist wie beim Swissair-Grounding, oder der UBS-Krise, auch wenn das vergleichsweise ein Klacks war. Da war der Staat wieder gefragt. Aber auch er ist nicht «too big to fail». Er braucht die Stütze des Gemeinsinns, und der ist jetzt nicht nur fundamental, sondern verflucht anspruchsvoll.

Was meinen Sie mit Gemeinsinn?
Roger de Weck schreibt in seinem neuen Buch «Die Kraft der Demokratie»: «Wir sind die, auf die wir warten.» Ein toller Satz! Die Behörden in Ehren, aber im Grunde genommen ist jetzt die Eidgenossenschaft der Bürgerinnen und Bürger gefragt.

Was müssen wir tun?
Widersprüche aushalten, auch die eigenen, ohne sie auf Sündenböcke abzuladen. Und auch ohne auf das alles regelnde Allheilmittel zu warten. Das Virus ist unberechenbar, das macht es stärker als jeden Algorithmus. Im Kern ist Corona nicht nur eine Herausforderung der Medizin oder der Logistik, sondern der Kultur.

Was sind die Folgen?
Wir wissen es nicht – das ist die eigentliche Herausforderung. Aber das hat sie mit jedem Menschenleben gemeinsam. Auch da genügt es nicht, «smart» zu sein. Es bleibt uns nicht erspart, ein wenig weise zu werden. Der Grenzfall des eigenen Todes – mit oder ohne Corona – liefert eigentlich schon ausreichend Gelegenheit dazu.

Sind Sie optimistisch oder pessimistisch?
Ich kann so oder so am Schicksal der Welt nichts ändern. Was ich ändern kann, ist meine Perspektive darauf. Wenn das genügend Menschen tun, dann hat man Anlass zur Hoffnung.

Können Sie das konkretisieren?
Mir kommt das Ganze vor wie ein Radwechsel am fahrenden Zug. Das ist physikalisch nicht möglich, also muss der Zug zum Stehen kommen. Genau das passiert nun, im globalen Massstab. Mit dem Radwechsel alleine ist es allerdings nicht getan.

Sondern?
Wir müssen fragen: Sind wir zu schnell gefahren? Oder: Stimmt die Richtung überhaupt? Wir könnten das Virus als Schocktherapie sehen und den Stillstand zur Bedenkzeit nützen: Wohin sind wir unterwegs, auf unserem einzigen Planeten? Dass die Corona-News alle anderen verdrängt haben, sagt viel über unsere Wahrnehmung der Realität. Wohin sind die Flüchtlingslager in Syrien und den griechischen Inseln verschwunden? Wir zeigen an, was für uns wirklich letzte Dinge sind: unser eigenes Wohlbefinden.

Es gibt also kein Business as usual?
Fast über Nacht ist die Blase grenzenlosen Wachstums geplatzt. Das Virus wächst schneller, die Welt nach Corona wird nie mehr die gewohnte sein. Wir stehen, wohl oder übel, vor einem Neubeginn. Eine brutale Chance. Die Globalisierung des Menschen zeigt ein ganz neues Gesicht. Das hat etwas von einer Offenbarung.

Das klingt religiös. Sie sind vor drei Jahren wieder in die evangelisch-protestantische Kirche eingetreten. Hilft Ihnen das jetzt?
Nein, ich betrachte CoV-2 nicht als Geissel Gottes zur Strafe unserer Sünden. Ich habe kürzlich Manzonis Roman «Die Brautleute» (1827) wiedergelesen, in dem die Pest eine zentrale Rolle spielt – auch als Prüfung der Liebenden. Darf ich vorlesen?

Bitte!
«Die Brautleute gelangen zum Schluss, dass Unglück und Nöte zwar häufig vorkommen, weil man ihnen Grund zum Kommen gegeben hatte, aber dass die vorsichtigste und unschuldigste Lebensführung nicht genügt, um sie sich fernzuhalten, und dass, wenn sie kommen, sie durch das Vertrauen in Gott gemildert und für ein besseres Leben nützlich gemacht werden.» Bei mir fällt diese tröstliche Schlussfolgerung aus.

Der Roman spielt in Mailand und Bergamo, nicht?
Die Schauplätze des Geschehens könnten nicht aktueller sein. Auch da sterben heute Menschen allein, von der überforderten Medizin preisgegeben. Aber dass sie nach dem Willen Gottes sterben, wagt heute keine Kirche mehr zu sagen – es wäre der reine Zynismus.

Was setzen Sie an die Stelle des Gottvertrauens?
Wir sind seit der Aufklärung dazu verurteilt, den Menschen in eigener Sache für zuständig zu halten: «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!» Das heisst: intelligent, mit Empathie, verantwortlich, solidarisch.

Wird die Gesellschaft nach der Corona-Krise solidarischer sein?
Ich sehe Ansätze dazu, bei der Opferbereitschaft des Pflegepersonals, aber auch bei vielen Freiwilligen, die ihre Dienste anbieten, wo sie am nötigsten sind. Dafür haben sie kein Gebot Gottes nötig, aber Fantasie und ein Gewissen. Und wenn in Italien die Menschen auf die Balkone rausgehen und gemeinsam singen, dann ist das ein Lebenszeichen der Menschlichkeit.

Von Balkon zu Balkon, schön auf Distanz: Werden wir zukünftig im Privaten soziale Kontakte meiden?
Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Die erzwungene Abstinenz ist auch hilfreich, um zu spüren, wer und was einem wirklich wichtig ist. Was lässt der virtuelle Kontakt zu wünschen übrig? Sie sehen: Ich bin immer noch analog geprägt – ich brauche die leibhafte Gegenwart meiner Partner, zuerst meiner Frau.

Ihre Frau ist Japanerin. Was wissen Sie aus ihrer Heimat zu Corona?
Es scheint, dass Länder, wo man die Verantwortung für das grössere Ganze mit der Muttermilch einsaugt, auch für den Umgang mit Corona besser gerüstet sind. Südkorea zum Beispiel hat seine Einwohner rasch und flächendeckend testen lassen – während bei uns die Voraussetzungen dafür immer noch fehlen.

Müssen wir von den Asiaten auch das Verneigen als neue Begrüssung lernen, oder kommt das Händeschütteln wieder zurück?
Ich hoffe, dass der Handschlag zurückkehrt, auch die freundliche Umarmung.

Küssen Sie Ihre Frau noch?
Jaja, das ist mein Rest an Gottvertrauen.

Zu Beginn der Corona-Krise gab es in der Gesellschaft eine Aversion gegen Chinesen. Bekam das Ihre Frau wegen ihres asiatischen Aussehens auch zu spüren?
Als Japanerin fühlt sie sich von den Chinesen so weit entfernt wie Schweizer von Russen oder Türken – aber natürlich ist sie oft schon beim ersten Blick in denselben Topf geworfen worden. Seit sich herumspricht, dass nicht alles Übel aus einem chinesischen Fischmarkt kommt und gerade die Chinesen damit offenbar auch noch besser fertig werden … profitieren auch andere «Asiaten» von der Rückkehr europäischer Bescheidenheit.

Neuerdings beschuldigen die Chinesen die Amerikaner, sie hätten das Virus in die Welt gesetzt.
Ja, das alte Sündenbock-Spiel, das die sozial genannten Medien lustvoll mit Verschwörungstheorien besetzen. In noch nicht lange vergangener Zeit waren es die Juden, die an allem Bösen schuld sein mussten. Keine Pest-Epidemie ohne Pogrom, und leider war auch der Holocaust nicht das Ende vom Lied. Dagegen ist die Lausbubenlogik «Ich nicht, er auch» schon ein Lichtblick der Humanität.

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