Hinter der Steilwandkurve wirds ernst. Stefano Modena (60) tritt das Gaspedal durch, bis der Tacho des VW ID.4 wie angenagelt auf 180 steht. «Los!», warnt er noch, aber da lenkt er schon scharf nach links, quert sechs, sieben Fahrspuren, kurvt gleich wieder zurück und wir fliegen auf dem Rücksitz trotz Gurten hin und her. Keine Chance zum Abstützen. Immerhin, der VW bleibt brav in der Spur.
Man kann nur hoffen, dass jede und jeder Autofahrende von solch einem Ausweichmanöver verschont bleibt. Ausprobiert wirds dennoch auf dem Testgelände des Reifenherstellers Bridgestone in Aprilia südlich der italienischen Hauptstadt Rom. Das Gelände ist ein Asphalt gewordener Traum für Autoingenieure – mit Highspeed-Oval, Parcours fürs Handling auf nasser Strasse, fürs Offroad-Fahren und für obskure Fahrbahnoberflächen von Kopfsteinpflaster bis Bröckelbeton. Und für einen Ex-F1-Fahrer wie Modena, der seit fast 25 Jahren für Bridgestone die Testrunden dreht und die Fakten auswendig drauf hat: «Das Gelände hat 144 Hektar Fläche, besteht seit den 1960ern und wurde vor einem Jahr für 3,5 Millionen Euro saniert.»
Forschung und Fertigung an einem Ort
Seit 1931 liefert Bridgestone als heute weltweit grösster Reifenhersteller jene schwarzen Gummiringe, die Lastwagen, Busse, Töffs, Traktoren, PWs und gar Flugzeuge ins Rollen bringen; seit den 1960er-Jahren forscht und fertigt er auch in Aprilia. Anfangs wurden hier die in Japan konzipierten Pneus auf europäische Verhältnisse umgestrickt, heute gibt Aprilia unter den sieben Forschungszentren im Unternehmen den Ton an – weil es nahe dran am europäischen Markt ist mit seinen zahlreichen Herstellern und Wetterverhältnissen von Polarkreiskälte bis Portugal-Hitze, unter denen neue Pneus funktionieren müssen.
Der Standort Aprilia beherrscht die komplette Kette; kann forschen, testen, mischen, walzen, wickeln, backen und anschliessend noch das Profil schneiden. Im letzten Jahr entwickelten 580 Mitarbeitende aus 18 Nationen allein hier 190 neue Reifen in mehreren Grössen. Dazu entstanden 15'000 Pneu-Prototypen für Tests unter realen Bedingungen; ausserdem wurden Serienreifen für den Verkauf produziert – unter anderem jene für die Supersportler aus Italiens Norden: Ferrari, Lamborghini, Maserati.
Virtuelle Tests statt reale
Neue Reifen werden entweder auf ein neues Automodell hin konstruiert – dann reicht der Hersteller seine Anforderungen ein. Oder der Pneu ist als Nachkauf-Reifen bestimmt, wenn die Erstausrüstung am Ende ist. Früher orientierten sich die Ingenieure dann an ihren Expertenkriterien. Doch seit eine Umfrage jene Fahrsituationen identifizierte, in denen die Kundschaft sich sicher fühlen will, setzten deren Anforderungen den Rahmen. Entwickelt wird längst digital und mit künstlicher Intelligenz. Und die Kriterie Haftung, Nachhaltigkeit, Abriebfestigkeit und Sicherheit werden so lange gegeneinander abwägt, bis der beste Kompromiss für Gummimischung und Profil gefunden ist. «Alle vier Anforderungen erfüllt man nie aufs Mal, weil sie sich widersprechen», sagt Technikvorstand Emilio Tiberio.
Dank der Digitalisierung finden 80 Prozent der Testfahrten nur noch in Simulatoren statt – das spart 200 reale Reifen, die Hälfte der Zeit sowie 60 Prozent bei Rohmaterial und CO₂-Emissionen. Wichtigstes Rohmaterial ist weiterhin Naturkautschuk, dazu kommen Stahl und bis zu 100 Chemikalien, oft nur in Spuren. Zwischen 15 und 20 Schichten werden für einen Reifen gewickelt und jeder trägt seinen spezifischen Code aus Farbringen zur Unterscheidung.
Rollgeräusch wird immer kritischer
Gut 18 Monate gegenüber früher zwei Jahren dauerts von der Idee bis zum Serienpneu. Bis zu 5000 Materialproben werden jedes Jahr bis zum Zerreissen belastet, um die ideale Gummimischung zu finden. Danach gehts für den Pneu in die Labortests – virtuell auf Testpisten mit unterschiedlichen Belägen, um sein Innengeräusch zu ermitteln. Oder real in einen luftgefederten und schalldichten Raum, in dem eine drei Meter messende Rolle sich als Strasse unter dem Pneu dreht und so das Aussengeräusch ermittelt werden kann. «Mit den leisen Elektroautos wird das Abrollgeräusch des Reifens immer auffälliger – und gleichzeitig wird es schärfer gesetzlich reguliert», sagt Tiberi. «Auch Lärm ist eine schädliche Emission.»
Nach all den objektiven Tests bewerten Stefano Modena und seine Kolleginnen dann ganz subjektiv, wie sich der Pneu draussen auf der Piste anfühlt. Geben sie grünes Licht, kann produziert werden. Kaum zu glauben, dass aus der eher übersichtlichen Fertigung jedes Jahr 50'000 Pneus rollen. Immer drei können gleichzeitig gewickelt werden, beim Backen im elektrisch statt wie früher mit Gas beheizten Steamer müssen sie anstehen. Dann folgt noch die langwierige Qualitätskontrolle – für jeden Reifen mit Röntgen-Durchleuchtung und Gewichtsprüfung. «Trotzdem ist jeder Reifen anders», sagt Tiberio – absolut identische liessen sich nicht produzieren.
Mehr als nur Reifen
Aber das ist alles Routine – spannend wird die Zukunft. Tiberio und seine Teams arbeiten an Pneus aus nachhaltigen Materialien – 55 Prozent haben sie bereits geschafft, aber bis 2050 sollen es 100 Prozent werden. Auch um dann eine komplette CO₂-Neutralität des ganzen Unternehmens zu erreichen. Vor allem Siliziumdioxid, das als Füllstoff Nasshaftung und Langlebigkeit eines Reifen verbessert, ist nur schwer zu ersetzen, weil Ersatzstoffe oft noch mehr Energie bei der Produktion benötigen. Und längst denkt Bridgestone auch über den Reifen hinaus, berät Flottenmanager beim Spritsparen, kalkuliert den Reifenverbrauch für Mobilitätsservices, entwickelt Pneusensoren oder berät die Autoindustrie.
Und was ist das Schwierigste für einen Reifenhersteller? «Flugzeugpneus», sagt Tiberio. «Bei der Landung werden sie innert 50 Sekunden von minus sechs auf plus 40 Grad Celsius erwärmt. Und müssen trotzdem halten.»