Bewundert und gelobt, kritisiert und verachtet: Als Schweden zu Beginn der Corona-Krise seinen lockeren Sonderweg zur Bekämpfung des Virus einschlug, spaltete das Land die Welt. Ohne Vorschriften, dafür mit Empfehlungen führte Staatsepidemiologe Anders Tegnell (64) Schweden durch die Krise.
Nach anfänglich hohen Zahlen an Todesfällen, vor allem in Altersheimen, schien die Strategie im Sommer aufzugehen. Allerdings nur kurzfristig. Inzwischen schnellen die Fallzahlen wieder nach oben, sodass etwa Deutschland Schweden zum Risikogebiet erklärt hat.
Schweden greift durch
Überraschend haben die Schweden vor kurzem ihre lockere Strategie geändert und die Notbremse gezogen. Seit einer Woche sind Museen geschlossen. Sogar das Freilichtmuseum Skansen hat dichtgemacht – das erste Mal in seiner 129-jährigen Geschichte. In den Restaurants herrscht Sitzpflicht, um 22.30 Uhr wird geschlossen. In der Öffentlichkeit dürfen sich nur noch maximal acht Personen treffen. Maskenpflicht gilt allerdings keine.
Ministerpräsident Stefan Löfven (63) sagte unmissverständlich: «Das, was wir jetzt tun, wird darüber entscheiden, wie viele von uns an Weihnachten noch am Leben sein werden. Das klingt brutal. Aber so hart und brutal ist die Wirklichkeit.»
Schweiz bleibt locker
Während Schweden die Schraube anzieht, geht die Schweiz den umgekehrten Weg. Nach einem harten Lockdown im März hat sie die Massnahmen gelockert. Selbst bei der heftigeren zweiten Welle verzichtet sie auf ein erneutes vollständiges Herunterfahren des öffentlichen Lebens. Das ärgert vor allem die Nachbarländer, die sich erneut in mehr oder weniger harte Lockdowns begeben haben.
Welcher Weg ist besser? Vergleicht man die aktuellen 7-Tages-Durchschnittswerte bei den Neuinfektionen, sinken die Schweizer Zahlen nach einem Peak Anfang November ganz klar, während die in Schweden steigen (siehe erste Grafik). Bei den Todesfällen hingegen haben die Schweizer Zahlen die hohen schwedischen Werte von der ersten Welle erreicht (siehe zweite Grafik).
Schweden auf dem Holzweg
Der Virologe Andreas Cerny (64), Direktor des Epatocentro in Lugano TI, bilanziert: «Die Strategie, die Schweden in der ersten Welle wählte, ist meiner Meinung nach falsch gewesen und hat vielen Personen das Leben gekostet. Die Tatsache, dass Nachbar Norwegen bis heute zehnmal weniger Covid-19-Opfer hat als Schweden, spricht Bände.»
Cerny anerkennt das Vorgehen betroffener Kantone, die frühzeitig harte Einschränkungen eingeführt hatten. «Ich denke, es ist dieses etwas mehr situativ und lokal adaptierte Vorgehen, das hier seine Stärken zeigt.»
Kein Aufatmen
Doch der Virologe warnt vor einem zu frühen Nachlassen. «Obschon die Zahlen der neuen Infektionen in der letzten Woche um 20 Prozent zurückgegangen sind und dieser Trend solide zu sein scheint, hat die Schweiz pro 100'000 Einwohner immer noch mehr als doppelt so viele neue Fälle wie zum Beispiel Deutschland.»
Die nächsten Wochen würden zeigen, ob die Kantone weiterhin ihre grosse Verantwortung erkennen und wahrnehmen würden. Cerny: «Es wird von ihren Massnahmen und der Kontrolle der Schutzkonzepte abhängen, ob die Festtage und die Winterferien eine dritte Welle auslösen oder nicht.»