Geheime Tegnell-E-Mails aufgetaucht
So kams zu Schwedens Sonderweg

Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell behauptet, Herdenimmunität sei nicht seine Corona-Strategie. Seine E-Mails vom Frühjahr beweisen das Gegenteil.
Publiziert: 17.08.2020 um 12:52 Uhr
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Aktualisiert: 16.02.2021 um 11:32 Uhr
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Schwedens Chef-Epidemiologe Anders Tegnell musste E-Mails veröffentlichen.
Foto: DUKAS

Herdenimmunität. Mit diesem Wort verbindet die Welt Schweden – obwohl Anders Tegnell (64), Architekt hinter dem schwedischen Sonderweg, immer wieder betont, dass Herdenimmunität nicht das Ziel, sondern nur ein mögliches Nebenprodukt seiner Anti-Lockdown-Strategie sei.

In den vergangenen Wochen haben sich die täglichen Infektionszahlen in Schweden stabilisiert – aktuell liegen sie bei rund 300 neuen Fällen pro Tag. Mit insgesamt 5776 Corona-Toten hat Schweden (10,3 Millionen Einwohner) pro Kopf eine fast so hohe Todesrate wie Italien. Dennoch verteidigte Tegnell stets seinen Risikokurs, selbstkritische Töne gabs vom schwedischen Chef-Epidemiologen nur selten zu hören.

Nun zeigen interne E-Mails, wie es zum schwedischen Sonderweg kam. Sie beweisen unter anderem: Tegnell wollte Schulen offen lassen, um die Corona-Verbreitung zu beschleunigen!

Tegnell wollte Finnland von der Herdenimmunität überzeugen

Offen diskutierte Tegnell im Frühjahr mit zahlreichen Experten und Behördenvertretern das Konzept der Herdenimmunität. Etwa mit seinem finnischen Amtskollegen Mika Salminen (55).

«Ein Punkt, der dafür spricht, die Schulen offenzulassen, wäre, die Herdenimmunität schneller zu erreichen», schrieb Tegnell laut «The Local.se» am 14. März in einem E-Mail an Salminen.

Salminen antwortete, seine Behörde habe die Idee abgelehnt – weil die Virus-Verbreitung unter Kindern zwangsläufig auch die Ansteckungsrate in der Gesellschaft erhöhen würde: «Wir haben das auch in Betracht gezogen, aber mit der Zeit werden die Kinder die Infektion immer noch verbreiten.»

«Richtig», antwortete Tegnell, «aber wahrscheinlich hauptsächlich untereinander wegen der extrem altersstratifizierten Kontaktstruktur, die wir haben.»

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«Praktisch jeden in ein bis zwei Monaten infizieren»

Die E-Mails sind vor allem auch deswegen interessant, weil Tegnell immer wieder behauptet hatte, dass Kinder bei der Coronavirus-Verbreitung keine grosse Rolle spielten – auch nicht untereinander. Damit hatte Tegnell unter anderem gerechtfertigt, dass schwedische Grundschulen selbst auf dem Höhepunkt der Pandemie geöffnet blieben.

Einen Tag vor der Korrespondenz mit seinem finnischen Amtskollegen hatte sich Tegnell mit einem seiner Vorgänger, dem Arzt und WHO-Funktionär Johan Giesecke (70), über Herdenimmunität ausgetauscht.

«Ich glaube, das Virus wird wie ein Sturm über Schweden hinwegfegen und praktisch jeden innerhalb von ein bis zwei Monaten infizieren», schrieb Giesecke. «Ich glaube, dass Tausende in Schweden bereits infiziert sind... das wird alles ein Ende haben, wenn so viele infiziert und daher immun sind, dass das Virus sich nicht mehr verbreiten kann (sogenannte Herdenimmunität).»

Ein paar Tage später schreibt Tegnell wiederum an Giesecke: «Sicherlich muss es so sein, dass mit steigender Immunität in der Bevölkerung die Ausbreitungsrate der Krankheit abnimmt.» Es sei aber offensichtlich nicht der Fall, dass bei Erreichen der Herdenimmunität «alles plötzlich aufhört». Von seinem Vorgänger will er wissen: «Gibt es eine Möglichkeit, darzustellen, wie die Ausbreitung zum Stillstand kommt?»

Tegnell: «Keine Ambitionen» auf schnelle Verbreitung

Offensichtlich suchte Tegnell nach Möglichkeiten, der Öffentlichkeit seine Strategie zu vermitteln. Dabei hatte er kurz zuvor noch Zoff mit seiner Vorgängerin Annika Linde (72) zu genau dieser Thematik. Linde hatte am 13. März auf Facebook einen langen Text veröffentlicht, in dem sie erklärte, dass es schlau wäre, «eine langsame Ausbreitung unter Schulkindern und ihren Eltern zu erreichen, um allmählich eine Herdenimmunität aufzubauen» – dies sei auch die Strategie des schwedischen Gesundheitsamtes.

Tegnell widerspricht scharf. In einem Interview sagt er, er habe «absolut keine Ambitionen, die Infektion auf diese Weise zu verbreiten». Sein Ziel sei stattdessen eine langsame Ausbreitung, um die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten.

Arzt schlug Tegnell vor, Gesunde in leeren Hotels zu infizieren

Doch wie passt das mit einer anderen Nachricht zusammen, die Tegnell in diesen kritischen März-Tagen, in denen die europäischen Länder nach und nach die Schotten dicht machen, erhält und offenbar aufmerksam liest?

Ein pensionierter Arzt schlägt dem schwedischen Chef-Epidemiologen darin vor, mit dem Coronavirus wie mit den Windpocken zu verfahren: Eine Ansteckung unter Kindern, die eher mild oder symptomfrei verläuft, könnte dann möglicherweise schwere Krankheitsverläufe im Erwachsenenalter verhindern. Der Arzt schreibt Tegnell: Benutze die leeren Hotels! Lass die gesunden Menschen dorthin gehen und sich gegenseitig anstecken, damit sie danach nicht geimpft werden müssen!

Eine Idee, die Tegnell offenbar interessant genug findet, um sie mit zahlreichen Kollegen zu teilen. Unter anderem leitet er das E-Mail an seinen Chef Johan Carlson (66), Leiter der schwedischen Gesundheitsbehörde, sowie an seinen finnischen Amtskollegen Mika Salminen weiter – so kommt es zur Diskussion um die geöffneten Schulen.

«Meine Bemerkungen bezogen sich auf einen möglichen Effekt, nicht auf einen erwarteten, der Teil der Beurteilung der Eignung der Massnahme war», rechtfertigt sich Tegnell angesprochen auf den Nachrichtenverlauf. «Die Schulen offenzuhalten, um Herdenimmunität zu erreichen, stand nie zur Debatte.» Doch die internen E-Mails, die der schwedische Journalist Emanuel Karlsten gestützt auf die Informationsfreiheit einsehen konnte, sagen etwas anders. (kin)

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