Vom Buhmann zum Zukunftsmodell
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Schwedens Corona-Sonderweg
Vom Buhmann zum Zukunftsmodell

Mittlerweile betrachtet die WHO den schwedischen Sonderweg in der Pandemie als vorbildlich. Ist er das auch?
Publiziert: 17.05.2020 um 00:05 Uhr
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Aktualisiert: 18.02.2021 um 10:42 Uhr
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Hofft noch immer, im Sommer Zimtschnecken in Stockholm zu essen: Auslandsredaktorin Fabienne Kinzelmann.
Foto: Paul Seewer

Man muss sich Schwedens Chefepidemiologen Anders Tegnell als sehr mutigen Mann vorstellen. Oder sehr sturen. Als seine Kollegen weltweit in eine Richtung liefen, marschierte Tegnell in die entgegengesetzte. Sein Ziel: Herdenimmunität.

Bis heute gibt es nur vier offizielle Verbote im «Corona-Wunderland»: Versammlungen mit mehr als 50 Personen, Schlange stehen, eine Einreise und den Besuch in Altersheimen.

Tegnell ist kein epidemiologisches Irrlicht. Er halte «fachlich sehr viel» von Schwedens Sonderweg-Entscheidern, sagt Deutschlands Chefvirologe Christian Drosten. Jedes Land muss auch im Hinblick auf Faktoren wie Bevölkerungsdichte oder die eigene Kultur abwägen, was möglich und sinnvoll ist.

Die Regierung in Stockholm hätte einen Lockdown gar nicht beschliessen dürfen – diese Kompetenz hat nur das Parlament. In einem Land mit mehrheitlich berufstätigen Eltern war das Offenhalten von Kitas und Schulen eine höchst politische Entscheidung. Und als Unternehmen in der Schweiz hektisch auf Homeoffice umstellten, sassen in Schweden viele Beschäftigte längst freiwillig daheim vor dem Bildschirm.

Mit Dutzenden von Empfehlungen an seine Bürger war Schweden auch gar nicht so weit weg von anderen Ländern. Doch noch immer verzeichnet das Land täglich um die 100 Tote und mehr als 500 Neuinfektionen.

Den höchsten Preis für die riskante Strategie zahlen die Alten. Mehr als die Hälfte der an Covid-19-verstorbenen über 70-Jährigen lebte in Altersheimen. In anderen Ländern galt der Solidargedanke, Alte und Kranke auch durch kollektive Massnahmen wie den Lockdown konsequent zu schützen.

Mit strengen Regeln gewann etwa die Schweiz wertvolle Zeit, um die Intensiv-Kapazitäten ihrer Spitäler auszubauen. Wie hoch die Welle genau werden würde, wusste schliesslich keiner. So konnten wir uns sogar Grosszügigkeit leisten – etwa in Schaffhausen: Dort wurden zwei junge Patienten aus dem Elsass (F) erfolgreich behandelt.

Mit den Lockerungen nähern sich die Schweiz und zahlreiche andere Länder nun den Schweden an. Mittlerweile sieht die WHO Schwedens Sonderweg in der Corona-Krise als Zukunftsmodell. Doch wie jedes Modell hat auch dieses so seine Tücken.

Ob die Anti-Lockdown-Strategie der schwedischen Wirtschaft nützt, ist umstritten. Die Globalisierung drückt die Prognosen mittel- bis langfristig auch dort, einzig der Binnenkonsum könnte profitieren.

Dass es so etwas wie Herdenimmunität gibt, steht für Sars-CoV 2 nach wie vor nicht fest. Studien zeigen, dass Infizierte mit leichten Symptomen möglicherweise gar nicht immun werden, weil der Körper zu wenige Antikörper bildet. Zudem können die Langzeitfolgen schwerer Krankheitsverläufe die Gesundheitssysteme bis weit in die Zukunft belasten.

Kämen harte Massnahmen für Schweden heute zu spät? Oder erfolgten die Lockerungen in anderen Ländern zu früh? Das wird man frühestens nach der zweiten Welle wissen: wenn Schweden entweder einen Startvorteil hat – oder das gleiche Problem wie alle.

Ihre Sommerferien planen die Schweden ohnehin besser im eigenen Land. Während die Länder mit niedrigen Infektionszahlen gegenseitig auf Reisefreiheit drängen, stehen Grenzöffnungen mit Schweden auf der Prioritätenliste ganz unten.

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Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.

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