Eigenverantwortung statt Lockdown – für diese Corona-Strategie wird Anders Tegnell kritisiert und bewundert. Der schwedische Chef-Epidemiologe setzte auf Empfehlungen, hält Schutzmasken und Grenzschliessungen für unnötig.
Doch nicht alles läuft rund im «Corona-Wunderland» Schweden. Die Neuinfektionen flachen nicht ab, die Todeszahlen sind hoch. In einem «BBC»-Interview rechtfertigt der Experte nun seine Strategie. «Wir schauen uns die Daten der letzten zehn Tage jeweils gar nicht richtig an, weil sie zu ungenau sind», sagt er etwa. Auf lange Sicht sei die Tendenz sinkend.
Tegnell rechtfertigt Todesfallzahl in Altenheimen
Das ist mindestens fraglich. Die Kurve der Neuinfektionen schlägt immer wieder nach oben aus, rund 500 kommen pro Tag hinzu. Den Preis dafür zahlt die Risikogruppe – in schwedischen Alten- und Pflegeheimen gibt es erschütternd viele Todesfälle. Erst im April wurde darum ein Besuchsverbot eingeführt.
«Auch mit Lockdown würden Pflegebedürftige viele Menschen treffen», begründet Tegnell die Infektionsherde in Alten- und Pflegeheimen. Die Ausbreitung sei einfach «unglücklich». Und: «Wir untersuchen das.»
Er gibt aber zu: «Wenn man auf die Todeszahlen guckt, hat unsere Strategie nicht funktioniert.» 3698 Menschen sind Stand Dienstagmorgen in Schweden (10,2 Millionen Einwohner) bereits an Covid-19 verstorben – in der nur unwesentlich kleineren Schweiz (8,5 Millionen Einwohner) sind es mit 1887 rund halb so viele.
Tegnell behauptet jedoch: Durch die viel höhere Verbreitung des Virus gäbe es eine zehn bis 20 Mal höhere Immunität. Wäre die Bevölkerung auch in anderen Ländern bereits so durchseucht, «hätten die auch höhere Todeszahlen».
«Die anderen hatten noch gar keine Welle!»
Allerdings: Da Schweden vergleichsweise wenig testet, ist unklar, wie viele Menschen tatsächlich bereits infiziert waren. Fest steht nur, dass die Infektionen und Todesfälle in den schwedischen Nachbarländern Finnland, Norwegen und Dänemark viel tiefer waren – alle hatten einen strikten Lockdown.
Damit konfrontiert sagt Tegnell: «Ich weiss nicht, was Sie meinen. Die anderen hatten noch gar keine Welle!» Er meint: Die Kurve in den anderen Ländern sei durch die harten Massnahmen künstlich gedrückt worden. Das räche sich, wenn die Länder zum Alltag zurückkehren wollten. Und die Leute sorglos würden, während die Schweden nach wie vor den Empfehlungen von Tegnells Behörden folgten.
«Ich glaube wirklich, dass unsere Vertrauens-Politik funktioniert. Wir sehen, dass wir einen grossen Einfluss haben», ist er überzeugt. An Ostern hätte es etwa nur zehn Prozent des normalen Reiseverkehrs gegeben. Und andere Infektionskrankheiten wie die Grippe seien durch die freiwillige Disziplin der Schweden auch ohne Lockdown «einfach verschwunden». Sein Fazit: «Es braucht nicht nur Gesetze.»
Er will nicht für Tote verantwortlich sein
Die Vorteile des schwedischen Sonderwegs in der Corona-Krise lägen auf der Hand: «Unser Weg ist viel nachhaltiger. Wir können ihn sehr lange durchhalten.»
Ob er sich als Architekt des Sonderwegs aber nicht für die vielen Toten verantwortlich fühlt? Erst antwortet Tegnell ausweichend – schliesslich unterstütze eine ganze Behörde seinen Kurs. Dann gibt er zu: «Natürlich. Die Zahl der Toten ist sehr bedauernswert und es ist eine schreckliche Sache, die wir sehen.» Aber: «Ich denke, wir haben ein paar Erklärungen, warum das passiert ist – und die stehen nicht alle in Verbindung mit unserer Strategie.»
Tegnell verteidigt die Entscheidung, am eingeschlagenen Weg festzuhalten: «Eine strikte Ausgangssperre hat in den Niederlanden und in Grossbritannien auch nicht viel geändert!» Beide Länder hatten erst einen ähnlichen Kurs gefahren – waren angesichts der hohen Todeszahlen schnell umgeschwenkt.
Führende Experten stünden hinter ihm
International wie national schlägt Tegnell ein rauer Wind entgegen. Schwedische Wissenschaftler etwa hatten in einem offenen Brief angeprangert, dass Schweden nicht genügend teste und Infektionsketten nicht ausreichend nachverfolge.
Die Kritik lässt Tegnell nicht gelten. Die meisten Experten in Schweden stünden hinter ihm. «Wir versuchen das beste, was wir können.» Und: «Die führenden Experten stehen hinter uns. Das andere ist nur eine kleine Gruppe.» Für unbedingt besser hält er den schwedischen Sonderweg dennoch nicht. Denn noch fehlen ausreichend Belege für die Wirksamkeit – ebenso wie für einen Lockdown.
«Weder das eine noch das andere ist richtig», findet der Experte. Er habe Schulen nicht schliessen lassen, um die Gesellschaft nicht anderweitig zu schädigen. Schulschliessungen hätten andere gesundheitliche Auswirkungen.
«Gibt keinen Grund, Herdenimmunität nicht anzunehmen»
Und selbstbewusst hält Tegnell an seiner Theorie der Herdenimmunität fest. Er hatte behauptet, die sei in der schwedischen Hauptstadt Stockholm, wo das Virus besonders grassierte, bereits Ende Mai erreicht. «Wir machen gerade eine riesige Studie, wie sie in anderen Ländern bereits durchgeführt wurde: Wir nehmen eine Stichprobe der Bevölkerung und schauen, wie viele bereits immun sind.» Bald würden also bessere Daten vorliegen, verspricht der Experte. Kleinere Untersuchungen in bestimmten Regionen hätten bereits gezeigt, dass dort zehn bis 15 Prozent Immunität bereits gegeben wären. «Das passt zu unseren Modellen.»
Das Argument, dass Herdenimmunität noch nicht bewiesen wäre, wischt Tegnell weg. Es gäbe keinen Grund, Herdenimmunität nicht anzunehmen; die Antikörperbildung sei nachgewiesen. «Warum auch sollte sich Covid-19 anders verhalten als irgendeine andere Infektionskrankheit?» Dass bei Patienten das Virus nach einigen Wochen erneut nachgewiesen wurde, erklärt er nicht mit einer Zweitinfektion, sondern mit einer Art «Reaktivierung»: «Man kann dieses Virus noch sehr lange in sich tragen.»
Tegnell ist entschlossen, sich auch künftig nicht von seinem Weg abbringen zu lassen. Der werde ohne Impfstoff allerdings noch lang sein – und bedeute das gleiche wie in jedem anderen Land, das langsam die Rückkehr zur Normalität wagt: die besonders gefährdeten älteren Menschen auch besonders zu schützen.