«Die Schweden gehen mir aus dem Weg»
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Höhere Fallzahlen:Schweizer Corona-Strategie verglichen zum Ausland

Trendwende auch ohne Lockdown
Das taugt die Schweizer Corona-Strategie

Die Fallzahlen sind höher als in so manchem EU-Land, und auch die Intensivbetten werden knapp. Doch: Während Nachbarstaaten nahezu komplett dichtmachen, sieht die Schweiz weiterhin von einem harten Lockdown ab. Unter dem Strich zahlt sich das aus.
Publiziert: 20.11.2020 um 00:46 Uhr
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Aktualisiert: 20.11.2020 um 08:08 Uhr
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Bundesrat Alain Berset sprach am 19. November mit dem Tessiner Staatsrat über die Situation der Coronavirus-Pandemie im Tessin.
Foto: keystone-sda.ch
Myrte Müller und Claudia Gnehm

Alarmierende Corona-Zahlen überschatten auch diese Tessin-Reise. 15 Tote in nur 24 Stunden meldet der Südkanton, während Alain Berset (48) am Donnerstag das Covid-Spital Moncucco in Lugano TI besichtigt. 15 Tote waren es auch beim letzten Besuch des Bundesrats, exakt acht Monate zuvor – inmitten der ersten Welle.

Dennoch: Ein harter Lockdown für das ganze Land ist für den Bundesrat keine Option. Und das angesichts noch immer hoher landesweiter Fallzahlen. So meldet das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gestern: 5007 Neuinfektionen, 79 Tote, 221 Hospitalisierungen. Von knapp 27'000 Tests waren 18,55 Prozent positiv.

Die harten Wintermonate stehen noch an

«Die kommenden Wintermonate werden noch schwieriger», mahnt Berset im Tessin. Aber: «Wir wissen, wie der Situation zu begegnen ist.» Masken, Abstand, Hygiene. Weniger private Treffen, generell weniger Kontakte. Das sind die Kernpunkte, mit denen der Bund Corona eindämmen will. Man werde weiter zur Arbeit gehen, zur Schule, so Berset auf der Pressekonferenz. Auch Restaurants und Geschäfte würden geöffnet bleiben – wenn möglich.

Ähnlich wie in der ersten Welle Schweden setzt die Schweiz nun primär auf Vernunft und Eigenverantwortlichkeit. Die Nachbarn schauen staunend oder entsetzt zu. Als die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) kürzlich gefährdete Personen bat, eine Patientenverfügung auszufüllen, polterte der deutsche SPD-Bundestagsabgeordneter Karl Lauterbach (57) via Twitter: «Traurige Aufforderung zum Verzicht. Eine menschliche Katastrophe. Ein unverzeihliches Politikversagen.» Und die deutsche Zeitung «Welt» verkündete gestern schon mal: «Das Scheitern der Schweizer Corona-Strategie».

Taskforce ist vorsichtig optimistisch

Tatsächlich? Schaut man auf die Zahlen, schlägt sich die Schweiz beachtlich. Die Wende bei den Neuansteckungen ist geschafft, und die wirtschaftlichen Schäden sind viel geringer als in anderen Ländern. Auch der prophezeite Kollaps der Spitäler hat nicht stattgefunden. Noch sind 21,5 Prozent oder 250 Intensivpflegebetten frei.

Der Basler Epidemiologe Marcel Tanner (68) verteidigt den Schweizer Weg. «Wir sind vorsichtig optimistisch», sagt das Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Er rechnet vor: «Unser Ziel ist es, alle zwei Wochen die Fallzahlen zu halbieren.» Und belegt: «In einer Woche konnten die Neuinfektionen um 26 Prozent gesenkt werden», so der Epidemiologe. Es müssten halt alle mitmachen. Man zähle auf die Gemeinschaftsverantwortung der Schweizer. Ausserdem würde die Herdenimmunität beginnen, eine Rolle zu spielen.

Auch der Oberwalliser CVP-Grossrat Benno Meichtry (57) ist überzeugt: «Die kontinuierliche Strategie hat sich bewährt. Durch die Massnahmen hat sich die Lage stabilisiert. Man bekommt die Fallzahlen runter.» Auch ohne harten Lockdown. Das soziale Leben müsse weitergehen. Es sei wichtig für die Gesundheit, so Meichtry, der selber in der Pflege tätig ist. «Der Schweizer Weg funktioniert wegen unseres starken Gesundheitswesens und der guten Infrastrukturen, die viel besser sind als beispielsweise in Italien.»

Auf gutem Wege

Die Mischung von kantonalen, dem Epidemieverlauf angepassten Massnahmen und einem ausgebauten Contact Tracing seien gepaart mit einer Bevölkerung, welche die Schutzmassnahmen im Grossen und Ganzen ernst nimmt, ein Erfolgsmodell, sagt der Tessiner Epidemiologe Andreas Cerny (64). «Das sind die wichtigen Erfolgsfaktoren für den Schweizer Weg.»

Auch wirtschaftlich geht die Rechnung auf. Der Staat greift für die Corona-Hilfen zwar kräftig in die Kasse – im Vergleich mit den Nachbarstaaten sind die staatlichen Wirtschaftshilfen aber bescheiden. Die Covid-19-Staatshilfen entsprechen rund 11,2 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. In Deutschland und Italien ist der Aufwand viermal grösser, in Frankreich doppelt so gross.

Die Corona-Pandemie bremst die Schweizer Wirtschaft weniger stark als die Nachbarländer. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erwartet für das laufende Jahr einen Rückgang des Schweizer Bruttoinlandprodukts (BIP) um 3,8 Prozent. Die Wachstumsprognose der EU-Kommission ist einiges pessimistischer. Für Deutschland geht die Kommission von einem BIP-Minus von 5,6 Prozent aus. Für Frankreichs Wirtschaft erwartet sie ein Minus von 9,4 Prozent und Italien 9,9 Prozent. Auch Österreichs Wirtschaft steht mit einem erwarteten Einbruch von 7,1 Prozent schlechter da als die Schweiz.

Beim Schuldenberg schneidet die Schweiz ebenfalls besser ab. Die Staatsschuldenquote wird sich gemäss OECD nächstes Jahr auf 50 Prozent erhöhen. Dagegen steigt die Quote in Deutschland auf 70 Prozent, in Österreich auf 85 Prozent, in Frankreich 118 Prozent und Italien 160 Prozent auf ein bedenkliches Niveau.

Doch über etwas können diese Zahlen nicht hinwegtäuschen: Die Pandemie fordert in der Schweiz deutlich mehr Todesopfer als in Deutschland und Österreich. Anders als im Frühling ist die Sterblichkeit nun bei uns etwa gleich gross wie in Frankreich und Italien.

Melany Kirchherr (44), Intensivpflegefachfrau am Covid-Spital in Visp VS, versucht, solchen Nachrichten aus dem Weg zu gehen. «Ich brauche meine Energie für meinen Job. Wenn ich die Schicht beende, bin ich todmüde», sagt sie. Ihre Gesichtshaut brennt vom Tragen der FFP2-Masken. Um 20 Uhr fällt sie erschöpft ins Bett. «Heute ist ein Corona-Patient gestorben», sagt Kirchherr. «Er war ein rüstiger älterer Herr, der vom Virus aus dem Leben gerissen wurde.»

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