Wie weiter, wenn sie plötzlich ohne Waffen vor 20 russischen Panzern stehen?
Yulia (28) hilft verzweifelten Soldaten

Sie wollen desertieren, fordern Waffennachschub: Bei Problemen rufen viele ukrainische Soldaten die Hotline der ukrainischen NGO Legal Hundred an. Blick traf deren Direktorin Yulia Morii (28), die den Kämpfern, Veteranen und Angehörigen juristisch zur Seite steht.
Publiziert: 01.07.2022 um 11:21 Uhr
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Aktualisiert: 01.07.2022 um 14:01 Uhr
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Yulia Morii ist Direktorin der NGO Legal Hundred. Blick traf sie in Mailand.
Foto: Guido Felder
Guido Felder

Die 28-jährige Yulia Morii aus Odessa spielt in der Betreuung von ukrainischen Soldaten und deren Angehörigen eine Schlüsselrolle. Als Direktorin der Nichtregierungsorganisation «Legal Hundred» hilft die Juristin mit rund 20 Berufskolleginnen und -kollegen Soldaten und Veteranen vor allem in rechtlichen Fragen. Sie arbeitet mit der Nato, den Vereinten Nationen, den ukrainischen Streitkräften, Ministerien und anderen Stellen zusammen.

Legal Hundred wurde 2014 als Gruppe von freiwilligen Anwälten auf Facebook gegründet, die verwundeten Teilnehmern des russisch-ukrainischen Krieges gratis rechtlichen Beistand leisten. Bisher haben mehr als 88’000 Menschen kostenlose Rechtshilfe erhalten.

Die am häufigsten Themen bei der Hotline von Legal Hundred sind: Wehrdienst und Entlassung, Sozialschutz sowie Recht auf eine Stelle. Auf Wunsch von Legal Hundred wurde vor vier Jahren ein Ministerium für Veteranenangelegenheiten geschaffen.

Plötzlich vor russischen Panzern...

Auch wenn es um rechtliche Fragen geht, seien die Anrufe auf die Hotline oft sehr emotional, sagt Yulia Morii bei einem Treffen mit Blick in Mailand (I), wo sie sich auf die Ukraine-Konferenz in Lugano TI vorbereitet. Dann etwa, wenn Kämpfer an der Front sie kontaktierten und wissen wollten, welche Strafe ihnen bei Befehlsverweigerung drohen würde.

«Auf unserer Hotline hatten wir vor kurzem einen Anruf von Soldaten, die 20 russischen Panzern gegenüber standen, selber aber keine Waffen mehr hatten», sagt Yulia Morii. Weiter kämpfen oder ohne Befehl den Rückzug antreten? Einen Rat geben kann sie den verzweifelten Soldaten nicht, aber sie kann ihnen die rechtlichen Konsequenzen aufzeigen, wenn sie das Kriegsrecht brechen. Ein Urteil könnte – je nach Situation – von Freispruch bis Gefängnis lauten.

Oft würden Soldaten um Waffenlieferungen bitten. «Das sind natürlich Wünsche, die nicht uns betreffen, und die wir nicht erfüllen können», sagt Yulia Morii. Besonders bewegend seien Telefongespräche mit Angehörigen, die schluchzend nach vermissten oder gefallenen Söhnen und Töchtern fragten. «Uns fehlen dann oft selber die Worte», sagt Morii.

Frauen gehen in Ferien ins Militär

Bei den ukrainischen Streitkräften, die rund 260’000 Angehörige zählen, sind 37’000 Frauen. Gegen 1000 von ihnen sind in führender Funktion. Yulia Morii: «Die Ukrainerinnen sind hoch motiviert. Eine Freundin von mir, die in einem Ministerium arbeitet, will während ihrer Ferien sogar freiwillig einige Wochen lang als Sanitäterin Militärdienst leisten.»

Im Grossen und Ganzen hätten die Soldatinnen die gleichen Probleme wie die Männer. «Aber es sind mehr Frauen, die sich über ihre Rechte informieren, wenn sie die Armee verlassen wollen, um ihre Kinder in Sicherheit zu bringen.» Natürlich gelte für alle das gleiche Gesetz. «Wer das Kriegsrecht verletzt und abhaut, wird bestraft», sagt Yulia Morii.

Yulia Morii kam 2017 zu Legal Hundred. 2019 – also mit 25 Jahren – wurde sie Direktorin. Ihr Herz schlage für die Organisation, für die sie auch Spenden besorgt. Yulia Morii: «Ich werde mich auch in den nächsten Jahren für Legal Hundred engagieren. Die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten sowie deren Angehörige brauchen uns jetzt erst recht.»

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