Der Krieg in der Ukraine hat eine kritische Phase erreicht. Mehr schwere Waffen aus dem Westen erreichen das Land. Erste Panzerhaubitzen aus Deutschland stehen im Einsatz. Die Russen rücken im Donbass weiter voran, doch langsamer und unter erheblichen Verlusten.
Morgen Freitag sind vier Monate seit der Invasion Moskaus vergangen. Beide Seiten stehen in einem Zermürbungskrieg. Die Ukraine hofft auf neue westliche Geschütze. Werden Mehrfachraketenwerfer bald einen Unterschied an der Front machen?
Weder die Ukraine noch Russland geniessen gegenwärtig einen klaren militärischen Vorteil, sagt der australische Militärstratege und Ex-General Mick Ryan. In einem Abnutzungskrieg wie dem, der sich derzeit in der Ostukraine abspiele, sei es unerlässlich, Material und Menschen wieder in einen kampffähigen Zustand zu versetzen. Die Ukrainer brauchen zudem Zeit, die für sie unbekannten neuen westlichen Waffensysteme voll zu integrieren.
«Operationspause so gut wie sicher»
«Die kommenden Monate sind kritisch», schreibt Ryan in einer Analyse im «Sydney Morning Herald». «Es gibt Anzeichen dafür, dass beide Seiten aufgrund der hohen Verluste und des hohen Munitionsverbrauchs kurz vor der Erschöpfung stehen. Sowohl die Russen als auch die Ukrainer haben einen grossen Teil ihrer besten Truppen verloren und stützen sich nun auf Territorial- und Reservekräfte.»
Ryan sieht eine Verlangsamung der Kampfhandlungen voraus: «Eine Operationspause in den nächsten ein bis zwei Monaten ist so gut wie sicher. Dadurch werden die Kämpfe zwar nicht eingestellt, aber für eine gewisse Zeit reduziert, während die Russen und Ukrainer sich umschulen, neu ausrüsten und die Situation überdenken.»
Pessimistischer sieht die Lage Kiews der pensionierte US-Oberst Douglas Macgregor. «Ausgebildete Ersatztruppen sind nicht in ausreichender Zahl vorhanden, um die Schlacht zu beeinflussen, und die Lage wird von Stunde zu Stunde verzweifelter», schrieb er unlängst im «American Conservative». Keine noch so grosse Militärhilfe der USA und ihrer Verbündeten, die nicht durch ein direktes militärisches Eingreifen von Bodenstreitkräften der USA und der Nato ergänzt werde, könne diese harte Realität ändern.
Premier Johnson: «Zumindest Status quo wiederherstellen»
Unbeeindruckt von Rückschlägen auf dem Schlachtfeld gibt sich der britische Premierminister Boris Johnson (58), einer der grössten Unterstützer von Kriegspräsident Wolodimir Selenski (44). Laut Johnson wird die Dynamik der russischen Truppen in der Ukraine in den nächsten Monaten nachlassen.
Johnson zeichnet das Gegenteil von Ryan: «Unser Geheimdienst ist der Ansicht», zitiert der «Guardian» den Premier, «dass Russland in den nächsten Monaten an einen Punkt gelangen könnte, an dem es nicht mehr vorankommt, weil es seine Ressourcen erschöpft hat. Dann müssen wir den Ukrainern helfen, die Dynamik umzukehren.»
Auf die Frage, wie ein Sieg für die Ukraine oder ein Scheitern für Putin aussehen würde, antwortete Johnson: «Dass wir zumindest den Status quo wiederherstellen, der vor dem 24. Februar herrschte, und dass (Putins) Truppen aus den Gebieten, in die sie eingedrungen sind, zurückgeschlagen werden.»