Ende Woche werden die Regierungen der 27 EU-Staaten entscheiden, ob sie die Ukraine und Moldawien zu Beitrittskandidaten für die Europäische Union machen oder nicht. Für die Gesuchsteller sieht es gut aus: Die deutsche Regierung erwartet am Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel eine Zustimmung.
Der Status eines Beitrittskandidaten bedeutet für die beiden Länder eine Zukunftsperspektive. Bis zu einem Beitritt könnte es aber unter Umständen noch Jahrzehnte dauern. Denn die Hürden, welche die EU mit den sogenannten «Kopenhagener Kriterien» setzt, sind hoch.
Wo ist die kriegsgeplagte Ukraine auf gutem Weg? Wo gibt es für sie noch viel zu tun? Blick macht mit Hilfe von Ulrich Schmid (56), Russland- und Osteuropa-Experte an der Universität St. Gallen, den Faktencheck.
😐 Wahrung der Menschenrechte
Die Ukraine ist Mitglied der Europäischen Menschenrechtskonvention und damit der Strassburger Gerichtsbarkeit unterworfen. «Sie befindet sich auf Platz sieben bei der Anzahl Feststellungen einer Menschenrechtsverletzung», sagt Ulrich Schmid. Im Ranking aufgeführt sind noch 46 Staaten – Russland ist nicht mehr dabei.
Schmid: «Die meisten Feststellungen betreffen das Fehlen eines fairen Verfahrens. Immerhin aber können die Menschenrechtsverletzungen nach Strassburg weitergezogen werden.»
😀 Institutionelle Stabilität
Die Europäische Kommission urteilt, dass die Ukraine bei der Erreichung der institutionellen Stabilität weit fortgeschritten ist. «Die Zeit der ständigen Verfassungsänderungen ist vorbei, mittlerweile könnte eher die starke Position des Präsidenten zu einem Problem werden», sagt Schmid. Denn Wolodimir Selenski (44) werde das politische Kapital, das er während des Kriegs aufgebaut hat, auch für innenpolitische Zwecke einsetzen.
😐 Demokratische und rechtsstaatliche Grundordnung
«Hier haben wir ein gemischtes Bild», sagt Ulrich Schmid. Es gebe freie und faire Wahlen, allerdings habe Selenski die Medienfreiheit eingeschränkt. Im Freedom House Index gelte die Ukraine als «teilweise fair». Sie liegt damit allerdings immer noch knapp hinter dem EU-Land Ungarn, das wegen Verstössen gegen die Rechtsstaatlichkeit stark in der Kritik steht.
😟 Achtung und Schutz von Minderheiten
Die neue Sprachengesetzgebung hat das Ukrainische gestärkt gegenüber etwa dem Russischen, aber auch dem Ungarischen und Rumänischen. «Hier gibt es eher einen Rückschritt», urteilt Schmid. Die Ukraine verfolge eine Politik der nationalen Homogenisierung.
😀 Funktionsfähige Marktwirtschaft
Die Europäische Kommission attestiert der Ukraine Fortschritte. «Es bleibt aber noch einiges zu tun», meint Ulrich Schmid. Im Ease of Doing Business Index der Weltbank nehme die Ukraine Platz 64 ein – das ist im hinteren Feld der EU-Staaten, aber immer noch vor Luxemburg, das sich auf Platz 72 befindet.
😟 Korruption
Vetternwirtschaft ist an der Tagesordnung, Oligarchen und korrupte Staatsbeamte bereichern sich, die Korruption geht bis in die Spitzen des Staates. Im Index von Transparency International kommt die Ukraine auf Rang 122 von 180. Schmid: «Das ist ein schlechtes Resultat.» Länder wie El Salvador (115), Thailand (110) und die Türkei (96) haben bessere Werte.
😀 Übernahme der EU-Rechte
Die Ukraine hat seit 2015 ein Assoziierungsabkommen mit der EU und ist auf gutem Weg zur Übernahme des EU-Rechts. Schmid: «Dieser Prozess wird allerdings mehrere Jahre in Anspruch nehmen, es gibt keine Abkürzung zur EU-Mitgliedschaft.»
Keine Express-Aufnahme
Auch wenn die Ukraine und Moldawien zu EU-Beitrittskandidaten werden, ist das noch keine Garantie für eine Annäherung an die EU. Das zeigt das Beispiel Türkei. Das Land ist schon seit 1999 Beitrittskandidat, doch erst sechs Jahre später wurden die Verhandlungen aufgenommen. Heute liegen sie auf Eis – unter Recep Tayyip Erdogan (68) und seinem islamischen Regime ist keine Verständigung möglich.
Eine Aufnahme für die Ukraine ist nur möglich, wenn der Krieg beendet ist und die Vorgaben erfüllt sind. Bulgarien und Rumänien wurden 2007 aufgenommen, obwohl sie die Vorgaben bei Justiz und Korruption noch längst nicht erreicht hatten. Das Ergebnis: Beide Länder unterliegen noch heute, fünfzehn Jahre später, einer speziellen Kontrolle.
Gleich behandeln wie andere
Zudem kann sich die EU eine Express-Aufnahme der Ukraine auch nicht leisten, weil sie damit die anderen Beitrittskandidaten düpieren würde. So sagte der österreichische Aussenminister Alexander Schallenberg (53): «Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft gibt» und die Ukraine und Moldawien auf der Überholspur seien.
Er verwies darauf, dass Nordmazedonien bereits seit 17 Jahren Beitrittskandidat ist und auch Albanien auf die Eröffnung der Beitrittsgespräche wartet. Schallenberg erwartet «beim EU-Gipfel ein klares Signal Richtung Osten, aber auch Richtung Südosten».