«Historische Woche» für die Ukraine – ETH-Experte Benno Zogg über die Folgen der EU-Beitrittskandidatur
Schlägt Putin jetzt noch härter zu?

Diese Woche entscheidet sich, ob die Ukraine EU-Beitrittskandidatin wird. Es wäre ein starkes Signal aus Brüssel, das dem Land Zukunftsperspektiven gäbe. Die Frage ist: Wie wird Putin reagieren?
Publiziert: 20.06.2022 um 18:30 Uhr
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Am 16. Juni besuchten vier Regierungschefs, darunter der deutsche Kanzler Olaf Scholz (l.) und der französische Präsident Emmanuel Macron, den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski (r.).
Foto: AFP
Guido Felder

Die Ukraine steht vor einer Schicksalswoche. Das sagte Präsident Wolodimir Selenski (44) in einer Videoansprache in der Nacht auf Montag. Selenski: «Morgen beginnt eine wahrlich historische Woche, wenn wir von der Europäischen Union die Antwort zum Kandidatenstatus der Ukraine hören.»

Die EU-Kommission hat am Freitag empfohlen, die Ukraine und Moldawien offiziell zu EU-Beitrittskandidaten zu ernennen. Ein klares Zeichen für diese in arger Bedrängnis stehenden Länder, aber auch eine klare Aufforderung, Reformen anzugehen. In beiden Ländern gibt es Defizite im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und im Kampf gegen Korruption.

Einem Kandidatenstatus müssen alle 27 EU-Mitgliedstaaten zustimmen. Der Entscheid soll beim EU-Gipfel fallen, der am Donnerstag und Freitag stattfindet. Die vier Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Deutschland, Italien und Rumänien, die letzte Woche Kiew besuchten, haben sich schon dafür ausgesprochen.

Selenski warnt vor neuen Angriffen

Zur «historischen Woche» zählt aber auch, dass der russische Präsident Wladimir Putin (69) auf eine EU-Ankündigung möglicherweise mit noch mehr Gewalt reagieren wird. Russland werde seine «feindlichen Handlungen eben in dieser Woche demonstrativ verstärken, nicht nur uns gegenüber, sondern auch gegenüber anderen Ländern Europas», sagte Selenski.

Nach Angaben des ukrainischen Präsidenten sammelt Russland Kräfte in Richtung Charkiw und Saporischschja. Beide Städte liegen im mehrheitlich russischsprachigen Osten der Ukraine. Teile der Gebiete sind von russischen Truppen bereits besetzt.

Ukraine vor Herausforderungen

Was bedeutet ein EU-Kandidatenstatus für die Ukraine? Wäre er ein wirkliches Bekenntnis oder nur eine Beruhigung der kriegsgeplagten Ukrainer? Dazu sagt ETH-Sicherheitsexperte Benno Zogg (32): «Das politische Signal, das ein Kandidatenstatus aussenden würde, wäre tatsächlich historisch. Die tatsächlichen Auswirkungen davon wären aber erst mal vor allem symbolisch.»

Denn bis zur Aufnahme dürfte es lange gehen. «Insgesamt kann dies Jahrzehnte dauern», sagt Zogg. «Der Kandidatenstatus löst einen jahrelangen Prozess aus, gefolgt von einem erneut jahrelangen Beitrittsprozess. Dabei geht es darum, die Ukraine fit zu machen für den europäischen Markt und den Acquis der EU, also die gesamten rechtlichen und politischen Grundlagen.»

Ein weiteres Problem: Ein Beitritt der Ukraine zur EU erfordert auch eine Klärung territorialer Fragen, sprich eine Lösung des Konflikts mit den russischen Invasoren.

Putin nicht grundsätzlich dagegen

Ob Putin wegen eines Beitrittsstatus der Ukraine seine Aggressionen verstärken werde, sei nicht sicher. Zogg sagt: «Putin hat sich bereits zu einem möglichen Weg der Ukraine in die EU geäussert: Er sei nicht dagegen. Auch in den Entwürfen für einen Friedensvertrag in Istanbul Ende März war die EU-Mitgliedschaft der Ukraine kaum ein Streitpunkt gewesen, mit der Einschränkung, dass die EU sich nicht zu einem Verteidigungsbündnis entwickle.»

Putin nehme die EU ohnehin eher als ökonomischen Block wahr und wisse um die Differenzen zwischen vielen Mitgliedstaaten und um die langwierigen Prozesse. «Entsprechend wird er kaum Anlass sehen, auf den möglichen Kandidatenstatus der Ukraine zu reagieren. Seine Offensive läuft ohnehin, und seine Absicht, die Ukraine nachhaltig zu schwächen und unter russischen Einfluss zu stellen, bleibt unverändert.»

Eine Zusage aus Brüssel dürfte für die Ukraine tatsächlich eine Zeitenwende einläuten. Zwar ist es nicht gerade einfach, sich gegen einen aggressiven Eindringling zu verteidigen und gleichzeitig Reformen anzugehen. Die aussenpolitische Vision eines EU-Beitritts könnte aber längerfristig die Reformbemühungen in der Ukraine stärken, sagt Zogg. «Auch wenn die Ukraine noch weit von einer Übernahme der EU-Richtlinien entfernt ist, bietet der offizielle Status dafür eine gute Basis.»

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