Gefährliche Strategie
Ukraine nutzt Sjewjerodonezk als Köder für Putins Truppen

Im Osten der Ukraine steht Sjewjerodonezk wohl kurz vor der Einnahme durch die Russen. Den Kampf um die Stadt benützen die Ukrainer aber, um die Kräfte des Feindes zu binden und ihn zu zermürben.
Publiziert: 10.06.2022 um 00:35 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 17:22 Uhr
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Ukrainische Soldaten reparieren einen Panzer im Donbass.
Foto: AFP
Guido Felder

Der Fokus der Kämpfe in der Ukraine liegt zurzeit im Osten des Landes, dem Donbass. Seit Wochen herrscht eine Pattsituation. Den Ukrainern gelang es sogar teilweise, die russischen Truppen zurückzuschlagen und Gebiete zurückzuerobern.

Nun melden die Russen neue Erfolge. Meter um Meter rücken sie vor. Die Stadt Sjewjerodonezk ist zum grossen Teil in den Händen der Invasoren. Der Luhansker Gouverneur Sergiy Gayday (46) schrieb auf Telegram, dass die Ukrainer nur noch das Industriegebiet kontrollieren würden.

Gayday: «Zum heutigen Tag sind leider über 90 Prozent des Luhansker Gebietes von Russland besetzt.» Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (44) prophezeite, was in Sjewjerodonezk passiere, würde «in vielem das Schicksal unseres Donbass entscheiden».

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Ukrainer lassen Russen erschöpfen

Wie schnell die Russen vorwärtskommen – und ob überhaupt – ist nicht voraussehbar. Marcel Berni (34), Strategieexperte an der Militärakademie an der ETH Zürich, sagt zu Blick: «Es liegt in der Natur von Kriegen, dass sie unberechenbar sind. Im Moment ist ‹gutes Wetter› für die Kriegsführung, und beide Seiten versuchen Offensivtruppen ins Feld zu führen. Die Kontrolle des Donbass steht und fällt zurzeit mit der Frage, wer mehr Truppen und Material verliert.»

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Die zurzeit im Fokus der Angriffe stehende Stadt Sjewjerodonezk sei strategisch gar nicht so wichtig, sagt Berni. Viel wichtiger für die Kontrolle des Donbass seien Slowjansk und Kramatorsk, die zweite ukrainische Verteidigungslinie dahinter. «Die Ukrainer dürften die Gefahr für diese Städte als nicht sehr stark einschätzen, weshalb sie die Russen in Sjewjerodonezk verzögern und zur Erschöpfung bringen wollen und die russischen Kräfte dort festbinden.»

Putin hat viel Geduld

Der Vorteil der Ukrainer: Sie bekommen aus dem Westen immer wieder neue, hochmoderne Waffen. «Die letzten 100 Tage haben gezeigt, dass es die westlichen Waffenlieferungen den Ukrainer erlaubt haben, russische Vorstösse entscheidend in der Tiefe zu verzögern und stellenweise aufzuhalten», sagt Berni.

Jetzt wollten die Ukrainer zunehmend mit schweren Waffen nicht nur gegnerische Frontverbände angreifen, sondern auch russische Logistik- und Kommunikationslinien auf ukrainischem Boden treffen.

Der Vorteil der Russen: «Putin ist sehr geduldig», sagt Berni. «Er kann Monate warten und die russische Gesellschaft viel enger kontrollieren, als wir es uns im Westen vorstellen.» Vor dem Krieg hatte er 15 Prozent des ukrainischen Gebietes mehr oder weniger unter Kontrolle. Nach über drei Monaten Krieg mit grossen Verlusten sind es rund 20 Prozent.

War das erst der Anfang?

Es könne sein, dass das für Putin erst der Auftakt war und dass er die jetzige Situation als eine Art «Work in progress» sehe. Berni zu Blick: «Deswegen muss es den Ukrainern gelingen, im Donbass eine militärische Pattsituation herzustellen. Sonst könnte sich Putin ermächtigt fühlen, nach einer strategischen Atempause weitere Regionen vom Donbass aus anzugreifen.»

Wie weit wird Putin geografisch und waffentechnisch gehen? Berni dazu: «Putin hat auf die amerikanische Ankündigung, Mehrfachraketenwerfer an die Ukraine zu liefern, wieder mit einer Drohung an den Westen reagiert. Ich gehe aber davon aus, dass er primär den Krieg weiter mit konventionellen Schlägen und Entlastungsangriffen in die Tiefe des ukrainischen Raumes hineintragen wird.» Ein Ende des Krieges ist also nicht in Sicht.


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