Wie weit artet der Krieg nach dem Anschlag auf einen Hamas-Führer aus? Experten ordnen ein
Hisbollah schwört bittere Rache

Israel muss sich auf einen Zweifronten-Krieg einstellen. Nach der Tötung eines Hamas-Führers im Libanon droht auch die Hisbollah mit ihren Waffen. Wir zeigen, wozu die Terror-Miliz fähig ist und wie weit sie gehen dürfte.
Publiziert: 03.01.2024 um 17:16 Uhr
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Aktualisiert: 03.01.2024 um 19:11 Uhr
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Saleh al-Aruri (†57) war Vize-Leiter des Hamas-Politbüros.
Foto: AFP
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Guido FelderAusland-Redaktor

Im Nahen Osten stehen die Zeichen auf Eskalation. Am Dienstag ist Saleh al-Aruri (†57), der Vize-Leiter des Hamas-Politbüros, in Beirut bei einer Explosion ums Leben gekommen. Im Iran sind am Mittwoch bei einem mutmasslichen Terroranschlag über Hundert Menschen ums Leben gekommen. Offenbar sind an der Grabstätte des iranischen Generals Qassem Soleimani (†62) zwei Sprengsätze explodiert. Es stellt sich die bange Frage: Greift nach der Terrororganisation Hamas auch die im Libanon stationierte, massiv bewaffnete Terrorgruppe Hisbollah mithilfe ihres grossen Raketenarsenals und weit verzweigten Tunnelystems in den Krieg gegen Israel ein?

Die Hisbollah-Miliz kündigte jedenfalls Vergeltung an. «Wir werden nicht tolerieren, dass der Libanon zu einem neuen Schlachtfeld für Israel wird», sagte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah (63). Am Mittwochabend gedenkt der Hisbollah-Chef des stellvertretenden Hamas-Kommandeurs al-Arouri und seiner Begleiter, die gestern bei einem Anschlag im Süden Beiruts getötet wurden. Er bezeichnet die Ermordung als «eklatante israelische Aggression».

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Am Dienstag kam es bei Beirut zu einer Explosion, bei der Saleh al-Aruri (†57) getötet wurde.
Foto: keystone-sda.ch

Nasrallah sagte, Israel sei «menschlich, moralisch und rechtlich» völlig gescheitert und fügte hinzu, dass das Land weltweit als ein Land angesehen werde, das Kinder und Zivilisten töte und aushungere. Israel habe nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober keine Chance mehr, Feinde abzuschrecken, so Nasrallah. Und er warnt: Die Hisbollah-Miliz sei «heute stärker, mutiger und besser vorbereitet auf einen Angriff». Er stellt in seiner Rede auch klar: «Wir haben keine Angst vor dem Krieg, und wenn er ausbricht, wird es keine Kontrollen geben.» Ein Krieg mit dem Libanon würde «die Existenz Israels» gefährden.

Im Zusammenhang mit dem Anschlag in Kerman verkündete die Quds-Truppe, einer Abteilung der Islamischen Revolutionsgarde die lange Zeit von Soleimani geführt wurde, dass der Angriff von «amerikanischen und israelischen» Agenten ausgeführt wurde. Israel hat beide Angriffe allerdings nicht bestätigt, der israelische Sicherheitsberater Mark Regev (60) bemühte sich am Mittwoch gar um Deeskalation: «Wer auch immer das getan hat, es muss klar sein, dass dies keine Attacke auf den libanesischen Staat war. Es war nicht einmal eine Attacke auf die Hisbollah.» Eskaliert die Lage im Nahen Osten? Wir erklären alles, was du jetzt wissen musst.

So stark ist die Hisbollah

Über die Jahre hat die Hisbollah vor allem mithilfe des Irans ein grosses Waffenarsenal angelegt. So schätzt man ihre Anzahl Raketen, die gegen Israel gerichtet sind, auf 70’000 bis 150’000. Nebst Billiggeschossen mit kurzer Reichweite und ohne Lenkungssystem gehören auch schwerere und hochpräzise Waffen dazu, so offenbar die russische Überschall-Rakete des Typs Jachont, die Schiffe versenken kann.

Die schiitische Terrormiliz besteht aus schätzungsweise 25’000 Kämpfern. Sie ist besser ausgerüstet und dank der Kampferfahrung im Syrienkrieg auch besser ausgebildet als die Hamas im Gazastreifen.

Michel Wyss (36) von der Militärakademie in Zürich: «Die Hisbollah verfügt zwar über beachtliche Fähigkeiten – insbesondere für eine nicht-staatliche bewaffnete Gruppe –, ist der israelischen Armee aber dennoch konventionell unterlegen. So verfügt sie über keine Luftwaffe und über nur wenige Bodenluftverteidigungsmittel und schwere Mittel.»

So gefährlich ist das Tunnelsystem

Auch die Hisbollah verfügt über ein Tunnelsystem, das Kommandozentralen und Logistik enthält. Es ist weit ausgefeilter als das der Hamas. Die unterirdischen Tunnel verliefen im Süden Libanons über Hunderte Kilometer bis zur Grenze nach Israel hinein, sagte der israelische Geheimdienstexperte Tal Beeri. Einige der Röhren seien gross genug, dass kleine Lastwagen über mehrere Kilometer Raketenwerfer verschieben könnten.

Beim Bau erhielt die Hisbollah Hilfe von Iran und Nordkorea. Die Terrororganisationen nutzen das Tunnelnetz als Schutz vor Israels massiven Bombardierungen und um sich zu verstecken. Ausserdem brauchen die Terroristen die Tunnel, um aus dem Nichts aufzutauchen und hinterrücks die heranrückenden israelischen Soldaten anzugreifen. Auch sollen die Terroristen darin Geiseln aus Israel festhalten.

So gross ist die Gefahr einer Eskalation

Schon in den vergangenen Wochen haben die Gefechte an der israelisch-libanesischen Grenze zugenommen. Wyss meint: «Die mutmassliche Tötung von al-Aruri durch Israel könnte die Hisbollah zu weiteren und auch massiveren Angriffen verleiten – etwa zu einem Einsatz von Langstreckenraketen. Hisbollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah hatte Israel in der Vergangenheit vor gezielten Tötungen gewarnt.»

Der Schlagabtausch an der israelischen Nordgrenze dürfte weiter anhalten und das Risiko einer Eskalation – je nach Vergeltung der Hisbollah – weiter zunehmen. Wyss: «Ich bin aber skeptisch, ob es zu einer regelrechten Ausweitung des Krieges kommen wird. Sowohl Israel als auch die Hisbollah dürften weiterhin kein Interesse an einem Krieg haben.»

Auch Michael Bauer (47), Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung im Libanon, erwartet eine Intensivierung der Kämpfe an der Grenze zwischen Israel und dem Libanon. Es könne auch zu vermehrten Aktivitäten der Huthi-Rebellen sowie pro-iranischer Milizen in Syrien und Irak kommen – etwa gegen amerikanische Einrichtungen.

Sowohl Israel als auch die Hisbollah hätten aber gezeigt, dass sie zumindest bisher keine komplette Eskalation wollten. Auch bestehe bei der Hisbollah kein Interesse daran, das Raketenarsenal gegen Israel abzuschiessen. Bauer: «Das Raketenarsenal der Hisbollah stellt eine Art ‹Zweitschlagskapazität› für Iran dar, um Israel und die USA vor Angriffen auf Teheran und das iranische Atomprogramm abzuschrecken. Hisbollah ist für Iran also ein wesentliches Element seiner regionalen Sicherheitspolitik.»

So gefährdet sind die Geiseln

Unter der Vermittlung Katars, Ägyptens und der USA hatten sich Israel und die Hamas Ende November auf eine mehrtägige Feuerpause geeinigt, um Geiseln gegen palästinensische Häftlinge auszutauschen. Während dieser Zeit wurden einige Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen freigelassen. Nach der mutmasslichen Tötung von al-Aruri sind die Verhandlungen über ein mögliches neues Geisel-Abkommen zwischen den Kriegsparteien zum Stillstand gekommen.

Noch immer befinden sich rund 130 Geiseln in den Händen der Hamas. Mit der Ausweitung des Krieges dürfte eine Befreiung oder ein Deal mit den Terroristen immer schwieriger werden.

So aggressiv sind die israelischen Scharfmacher

Israel hatte sich 2005 nach 38 Jahren Besatzung aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Jetzt fordern ultrarechte israelische Politiker, dass Israelis die Enklave wieder besiedeln sollten und Palästinenser «zum Auswandern ermutigt» würden. Zu den lautesten Scharfmachern, die faktisch eine Annektierung des Gazastreifens vorschlagen, gehören Finanzminister Bezalel Smotrich (43) und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir (47).

Auf diese Idee reagierten sogar Israels Freunde in den USA ungewöhnlich scharf. Matthew Miller, Sprecher des US-Aussenministeriums, sagte: «Diese Rhetorik ist aufrührerisch und unverantwortlich.» Ben-Gvir erwiderte darauf auf X: «Ich schätze die Vereinigten Staaten von Amerika sehr, aber bei allem Respekt, Israel ist kein weiterer Stern auf der amerikanischen Flagge. Die Vereinigten Staaten sind unser guter Freund, aber wir werden vor allem das tun, was für Israel das Beste ist.»

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