Vom Komiker zum Krisenmanager – Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse beurteilt den ukrainischen Präsidenten
«Putin nimmt Selenski weniger ernst als dessen Vorgänger»

Erst noch verdiente er sein Geld als Komiker und Schauspieler. Nun muss Wolodimir Selenski (44) die Ukraine als Präsident durch eine der grössten Krisen führen, die das Land je erlebt hat. Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse bilanziert seine Amtszeit.
Publiziert: 14.02.2022 um 00:48 Uhr
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Aktualisiert: 11.03.2022 um 14:35 Uhr
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Zwischendurch immer noch Komiker: der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski.
Foto: DUKAS
Guido Felder

Als Wolodimir Selenski (44) im Jahr 2019 die Stichwahl gegen Amtsinhaber Petro Poroschenko (56) gewann und ukrainischer Präsident wurde, herrschte vor allem die bange Frage: Kann er das überhaupt? Bisher war der Humorist und studierte Jurist vor allem bekannt durch die Fernsehserie «Diener des Volkes», in der er einen Lehrer spielte, der unverhofft zum sympathischen Regierungschef Wassil Holoborodko wurde.

Wie der Serienheld, den er darstellte, versprach Selenski, die Korruption zu bekämpfen. Er wolle einerseits auf Russland zugehen, andererseits am EU-Beitritt festhalten. Das war genau das, was die Ukrainerinnen und Ukrainer wollten. Selenski hebelte Poroschenko mit 73 Prozent der Stimmen aus dem Amt.

Bisher ist es ihm aber nicht gelungen, seine Versprechen zu halten. Schon ein Jahr nach der Wahl war Selenski bei einer Umfrage für 42 Prozent der Befragten die Enttäuschung des Jahres. Die Gunst fiel weiter, als 2021 bekannt wurde, dass auch er eine Briefkastenfirma in einer Steueroase benutzte, um Gelder am Fiskus vorbeizuschmuggeln.

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Putin testete ihn

Auch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin (69) scheint er keinen Eindruck zu machen. Gwendolyn Sasse (49), Wissenschaftliche Direktorin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, sagt zu Blick: «Zu Beginn seiner Amtszeit signalisierte Selenski Bereitschaft, direkt mit Putin zu verhandeln, worauf ihn der russische Präsident austestete und Ende 2019 zumindest einen neuen temporären Waffenstillstand ermöglichte. Es wurde jedoch schnell deutlich, dass Putin Selenski noch weniger ernst nahm als dessen Vorgänger.»

Zu den momentanen Schwächen Selenskis zählten, dass seine Botschaften an die unterschiedlichen Adressaten nicht einheitlich seien. Sasse: «Mitunter scheint es, dass er direkte Verhandlungen mit Putin nicht ausschliesst, dann erwartet er vom Westen militärische Unterstützung und beschwichtigt zugleich die ukrainische Öffentlichkeit angesichts einer möglichen Eskalation.»

Schweisst Regionen zusammen

Doch Gwendolyn Sasse relativiert: «Die beiden Wahlversprechen – Korruptionsbekämpfung und Frieden im Donbass – hätte auch ein erfahrenerer Politiker nicht einhalten können.» Nach dem für ukrainische Verhältnisse ungewöhnlich klaren Wahlsieg sei sein Popularitätsverlust bei einer so grossen Fallhöhe vorprogrammiert gewesen.

Selenski ist es hingegen teilweise gelungen, sein Land vorwärtszubringen und zusammenzukitten. So gehört laut Sasse zu seinen Stärken, dass er die Identität des auf regionale Diversität ausgerichteten Staates stärke. «Er hat sich vor allem in seiner Anfangszeit auf der Grundlage seiner parlamentarischen Mehrheit im Rekordtempo um Reformen bemüht, es allerdings versäumt, seine Partei und die politischen Institutionen zu stärken.»

Selenskis Bilanz fällt eher ernüchternd aus. Inzwischen erklärt sogar die Hälfte der Ukrainer, sie würden ihn nicht mehr wählen.

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